Wider die Schwere

Mit „4 Por 4“ brachte die brasilianische „Companhia de Danca Deborah Colker“ die Kampnagelfabrik zum Toben

Nicht nur Geckos und Insekten können flink Wände hochlaufen, auch Menschen. Jedenfalls einige von ihnen. Zum Beispiel die 17 BewegungskünstlerInnen der brasilianischen „Companhia de Danca Deborah Colker“. Da lehnt eine mit leicht vorgebeugter Brust an der aprikotfarbenen Stellwand, der Installation des bildenden Künstlers Cildo Meireles nachempfunden. Ein Kollege rast auf sie zu, steppt ganz sachte auf diesen schmalen Körpertritt, schießt ab nach oben, schwingt sich über den oberen Rand der drei Meter hohen Wand und verschwindet im Dunkeln. Irgendwo in ihren ziemlich durchtrainierten Körper müssen in diese Menschen mit Sprungfedern ausgestattet worden sein. Dem Zuschauer mit nur durchschnittlicher Bewegungsintelligenz bleibt dieses Schauspiel aber ein völliges Rätsel.

Doch das Ensemble um Choreographin Deborah Colker kann auch verschmelzen. Mit dem metallenen Tisch, der langsam über die Bühne fährt, zu Gruftklängen von Berna Ceppas. Die nekrophile Liebkosung des kalten Möbelstücks lässt einen schaudern und fasziniert zugleich. Wie kommt es, dass der Muskelmann, der auf dem Tisch steht, während Deborah Colker rechtwinklig und brettsteif vor seinem Torso schwebt, sich nicht bewegt, während der Tisch unter ihm entlang gleitet? Magie, die nicht schwindet, wenn man die schlichte Mechanik durchschaut, die ihr zugrunde liegt: In die Tischplatte ist ein Laufband eingebaut.

Wieder einmal ist Colker die Mischung von Bewegungs- und bildender Kunst gelungen. Die rund 60 chinesischen Vasen, Straßen- und Wandgrafitti aus bunten Totenköpfen, Penisen, Mündern, all diese stilisierten Phänomene des Kulturalltags, betanzt das Ensemble mit allen Regeln ihrer Kunst: Das Grafitti-Ambiente verwandelt es in eine Gruppe ausgelassen flirtender Jugendlicher, das Vasenfeld veranlasst sie zu Ellenbogenkicks und Fußtritten aus den asiatischen Kampfkünsten. Stets gepaart mit akrobatischen Aktionen zur sekundenschnellen Aufhebung der Schwerkraft. Die einzelnen Stile nur angedeutet, gerade so, dass der Zuschauer seine eigene Jackie Chan Szene vor dem geistigen Auge ablaufen lassen kann, ausgestattet mit entsprechenden Gefühlen.

4 Por 4 lässt die Objekte bildender Kunst und Tanz direkt aufeinander wirken. Es ensteht etwas Neues, ein sinnliches, anregendes Gesamtkunstwerk. Klassisches Ballett fehlt auch nicht, ironisch inszeniert als dauernde Probe der üblichen Zehenstände, Pliés, Sprünge. Colker begleitet am Klavier, mit Händen, die gefühlvoll in die Tasten hineinsinken. Allein das ist eine kleine Choreographie. Am Ende der Premierenvorstellung tobte das Publikum vor Begeisterung. Klar, warum Colkers Werk schon diverse renommierte Preise erhalten hat. Katrin Jäger

Weitere Aufführungen am 14. bis 16.11., 20. bis 23.11., 20 Uhr, Kampnagel