Wo der Fluss das Leben ist

Mit dem Lastkahn auf dem Río Paraguay. Von Asunción, Paraguays Hauptstadt im Süden, über Concepción hinauf nach Fuerte Olimpo im Grenzgebiet zu Brasilien, wo das Land dünn besiedelt ist

von ROBERT SCHOEN

„Guten Tag, nimm dich vor dem Burschen mit dem schwarzen Hemd in Acht!“ Señora Koko weiß, wovon sie spricht. Señora Koko macht in gebrauchten Kleidern und bereist seit sieben Jahren den Río Paraguay, meistens auf der „Guaraní“. 37 Meter lang, 7 Meter breit. Zulässiges Ladegewicht 150 Tonnen. 8 Mann Besatzung, Señora Koko, der Bursche im schwarzen Hemd, ein Deutscher, ein Dutzend Passagiere im Alter zwischen einer Woche und 82 Jahren, Zwiebeln, Tomaten, Süßkartoffeln, 50 Liter Milch, eine Metallwendeltreppe, Zement, Mehl, Zuckerrohrschnaps, Eisenstangen, ein paar Stühle, Mais, Wellblech, Baumwolle, Benzinfässer, Maniok, zwei Fahrräder, Kakerlaken, ein Moped, Säcke mit Kleidern aus zweiter Hand, Käse, Joghurt, Hängematten, zwei kleine Boote, Brot, Fleisch, Zucker, Bier, Coca-Cola, ein junger Hund. Alle zwei Wochen macht sich die „Guaraní“ auf den Weg. Von Asunción, Paraguays Hauptstadt im Süden, über Concepción hinauf nach Fuerte Olimpo im Grenzgebiet zu Brasilien, wo das Land dünn besiedelt ist und der Río Paraguay die wichtigste Verbindung zwischen den weit verstreuten Siedlungen darstellt. 700 Kilometer den Fluss hinauf, 700 Kilometer den Fluss herunter. Eine Woche hin, die nächste Woche zurück.

Eigentlich ist die „Guaraní“ ein Lastkahn, aber wenn Platz ist, nimmt sie auch Passagiere mit, und Platz findet sich eigentlich immer. Und so steht der Deutsche an einem sonnigen Montag im Juni am Hafen von Concepción, einem Städtchen 350 Kilometer nördlich von Asunción, und sucht einen geeigneten Ansprechpartner. Juni, das bedeutet in Paraguay Winter, und wenn die Sonne scheint, 25 Grad. Man klettert zwischen den Trägern auf einem schmalen Holzsteg an Bord, wo ein vierschrötiger Lademeister das Hin- und Herwuchten der Kisten und Fässer überwacht. Er sitzt auf einem Mehlsack, und sein dicker Bauch quillt zwischen verwaschenem Hawaiihemd und Bermudashorts mit springenden Delphinen. Ab und zu murmelt er einem seiner Handlanger etwas zu. Was er auf die Frage nach einer Passage zwischen seinen Zähnen hervorbrummt, klingt nach Zustimmung. Der Deutsche kann also ein Stück mitfahren; zweieinhalb Tage bis nach Puerto Vallemi an der brasilianischen Grenze; das Ticket zu 50.000 Guaraní – 8 Euro –, Mahlzeiten und Kaffee nicht inbegriffen. Dafür zwei Eisenringe, an denen man seine Hängematte befestigt.

So wie Señora Koko, die die besten Plätze kennt und das Gepäck so zu verstauen weiß, dass es nicht plötzlich verschwindet. Der Bursche im schwarzen Hemd hat den Deutschen inzwischen entdeckt. Man muss also auf der Hut sein. Dann legt die „Guaraní“ ab, und Raquel Duarte stillt erst einmal ihr Neugeborenes. Die Achtundzwanzigjährige sieht blass aus, und der Kleine hat Schuppenflechte. Raquel ist Lehrerin. Sie erzählt, dass sie zur Entbindung in die Provinzhauptstadt fahren musste. In Puerto Colón gibt es kein Krankenhaus, nur einen Tierarzt. Mit ihrem monatlichen Gehalt von 700.000 Guaraní – 90 Euro –hält Raquel momentan ihre ganze Familie über Wasser. Irgendwann in der Nacht wird sie aussteigen, an einer kaum befestigten Anlegestelle aus Lehm und Holzbohlen, und ihr Mann wird sie abholen und ihr einen Kuss geben. Sein Kuss wird dann nach Tres Leones schmecken, dem gängigen Zuckerrohrschnaps, der halbe Liter im Plastikflachmann zu 80 Cent.

Tag und Nacht rattern die 300 PS des alten Diesels den Fluss entlang. Vor ihrer Zeit als Austauschmotor auf dem Río Paraguay rumpelte die Maschine zwanzig Jahre lang in einem Lkw über den Transchaco, der auf hunderten von Kilometern einzigen asphaltierten Straße im unwirtlichen Nordwesten Paraguays. Miguel, seit 33 Jahren als Steuermann und Mechaniker auf dem Fluss unterwegs, scheint ganz froh zu sein, während der langen Nacht ein wenig über Motoren plaudern zu können. Vier Jahre noch, dann geht er in Rente. Das Häuschen steht schon, und vielleicht findet er auf seine alten Tage doch noch eine Frau. Das Leben an Bord hat dafür bisher keinen Platz gelassen. Ob er den Fluss nach so langer Zeit immer noch mag? Miguel zuckt mit den Schultern, rückt die Brille unter seiner verblichenen Schildkappe zurecht und schaltet das Radio an. Schweigend lauscht man einer Weise des großen Oskar Pérez – „Mi sueño dorado“, Mein goldener Traum.

Der Fluss hat seine Tücken, vor allem nachts. Es gibt keinerlei Leuchtsignale am Ufer, dafür zahlreiche Untiefen und Kehren. Die meiste Zeit fährt die „Guaraní“ ohne Licht durch das Dunkel, und nur selten knipst Miguel einen schwenkbaren Scheinwerfer an, um zielsicher kleine Hinweisschilder am Ufer anzuleuchten. Sonstige Navigationshilfen gibt es nicht, nur ein altes Funkgerät, das aber selten benutzt wird. Manchmal ist ein Schild zugewachsen, dann tastet der Lichtstrahl vorsichtig das Ufer ab, und Miguel drosselt den Motor. Hoch ist die Geschwindigkeit ohnehin nicht, 5 Kilometer die Stunde, denn man fährt im Schleppverband, und zwei andere Lastkähne müssen schließlich noch mitgeschoben werden.

Unter Deck wird Señora Koko dem Deutschen später die Geschichte der „Miryan Adela“ erzählen, die am 10. Februar 1978 im Río Paraguay versank und mehr als hundert Passagiere mit sich nahm. Doch heute Nacht ist der Fluss ruhig. Der Himmel ist zwar bewölkt, aber vom gefürchteten „Viento del Sur“, dem unberechenbaren Südwind, ist weit und breit keine Spur. Señora Koko kann in ihrer Hängematte nicht schlafen. Die Arthrose plagt sie hartnäckig. Man tauscht Aspirin und Geschichten. Von dem Burschen im schwarzen Hemd ist nichts zu sehen.

Paraguay ist ein armes Land. Es hat hohe Auslandsschulden und ist von der Krise in Argentinien schwer in Mitleidenschaft gezogen. Natalia Comelli, eine junge Psychologin aus der Hauptstadt Asunción, die ihre Eltern in Puerto Vallemi besuchen will, blickt skeptisch in die Zukunft. „Utopien gibt es immer, aber was ist von der politischen Klasse eines Landes zu halten, in dem der Präsident in einer in Brasilien geklauten und über die Grenze geschmuggelten BMW-Luxus-Limousine erwischt wird?“ Die Demokratie ist jung in Paraguay, und noch sind die Wunden der jahrzehntelangen Gewaltherrschaft unter dem deutschstämmigen Diktator Stroessner nicht verheilt.

Señora Koko ist mittlerweile eingeschlafen. Nur der Koch sitzt im Unterdeck noch vor dem Fernseher und schaut den Bildern zu, denn der Motor ist so laut, dass man den Ton der mexikanischen Telenovela nicht verstehen kann. Dazu raucht er Zigaretten und trinkt eine Dose Bavaria.

Schon am zweiten Tag fängt man an, sich an alles zu gewöhnen: an den Motorenlärm, an die Schönheit des Flusses, an die chronisch schlechte Laune des Lademeisters, an das freundliche Grinsen des taubstummen Hilfsmatrosen Paco und an die stillen Patiencen von Martha Zararte Cadario, einer alten Frau, die an den Anlegestellen Obst und Gemüse verkauft. Und auch an den Deutschen hat man sich gewöhnt. Es fahren nicht sehr oft Touristen von Concepción aus den Fluss hinauf, bis nach Puerto Vallemi, wo die „Guaraní“ für fünf Stunden anlegt, um aus- und einzuladen, bevor sie sich auf den Weg nach Fuerte Olimpo macht. Für den Deutschen ist die Reise hier allerdings zu Ende. Der Bursche im schwarzen Hemd heißt übrigens Juan Ramón Reyes, arbeitet als Elektriker auf einer Estanzia nördlich von Puerto la Esperanza und spielt hervorragend Dame.