Das Buch der Königin

Erst Patientin von C. G. Jung, dann Geliebte, schließlich die erste Frau, die überhaupt mit einer psychoanalytischen Dissertation promoviert und Kinderanalytikerin wird: Elisabeth Martóns Dokumentarfilm „Ich hieß Sabina Spielrein“

Eine Kamerafahrt wiederholt sich mehrmals in dem Dokumentarfilm „Ich hieß Sabina Spielrein“ von Elisabeth Martón und teilt ihn so gewissermaßen in einzelne Kapitel: Von fern nähert sich die Kamera Bergen von Papier, das am Boden liegt und aus Kisten herausquillt. Briefe, Dokumente, Tagebücher – und irgendwo verharrt der Blick dann, bleibt stehen, zoomt heran und pickt sich einen Anhaltspunkt heraus. Anhand dieser neuen Spur fährt der Film fort, seine Geschichte zu erzählen, die Geschichte von Sabina Spielrein.

Sabina Spielrein: Die junge russische Jüdin, die im Sommer 1904 von ihren Eltern in die psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich gebracht wird, wo der behandelnde Oberarzt Dr. C. G. Jung eine „psychotische Hysterie“ diagnostiziert, die eine Behandlung nach der neuen Methode des Dr. Freud aus Wien sinnvoll erscheinen lässt.

Sabina Spielrein, die nach zehnmonatiger stationärer Behandlung selbst das Medizinstudium an der Zürcher Universität aufnimmt, die 1911 als erste Frau überhaupt mit einer psychoanalytischen Dissertation promoviert, die als Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Vorträge hält und wegweisend in ihrem Fachgebiet der Kinderanalyse wird. Sabina Spielrein, die während der Behandlung „die Malchance“ hatte, sich in ihren Therapeuten C. G. Jung zu verlieben, wie dieser etwas zerknirscht seinem Lehrer Freud in einem Brief mitteilt – seine Zerknirschung hindert ihn allerdings nicht daran, eine Affäre mit der intelligenten und schönen Patientin zuzulassen.

Jahrzehntelang, bis 1980 war diese Sabina Spielrein, die 1941 in ihrer Heimatstadt Rostow am Don von den Nazis erschossen wurde, der Geschichte der Psychoanalyse kaum eine Fußnote wert. Dann entdeckte man im Keller des Genfer Instituts Jean-Jacques Rousseau einen Koffer mit ihren Briefen und Tagebüchern. Diese strukturieren nun auch Elisabeth Martón Film über Sabina Spielrein. Die Stimme, die so lange stumm war und die jetzt wieder aus den Texten spricht, ist als Voiceover auf der Tonspur zu hören. Im Bild sind dazu Szenen und kurze Momentaufnahmen aus Spielreins Leben nachinszeniert (mit Eva Österberg als Sabina und Lasse Almebäck als Jung): wehende Vorhänge im offenen Fenster; der brodelnde Samowar auf dem Tisch; ein Ausflug von Jung und Sabina am Zürichsee.

Martón geht chronologisch vor, folgt aber dennoch einem assoziativen Erzählmuster, das sich durchaus in Träumen oder Erinnerungen verliert. Wenn Sabina und Jung sich beide in ihren Briefen an Freud wenden, dann versteht es die Regisseurin, die selbst Psychologie studiert hat, das „Dreiecksverhältnis“ in all seinen Nuancen auszuleuchten: Das Vater-Sohn-Verhältnis von Freud und Jung; das von Jungs Schuldgefühlen verschattete Liebesverhältnis zwischen ihm und Sabina; deren selbstbewusstes Schülerinnenverhältnis zu Freud, das wechselseitige Lernen von einander – aber allem Erkenntnisgewinn zum Trotz bedeutet der Briefwechsel für Sabina das Ende ihrer Beziehung zu Jung: Beinahe zynisch mutet die abschließende „Erledigung“ des Falles durch die beiden Männer an.

Dennoch: Martóns Film vermeidet die melodramatische Geste. Sein Rhythmus wird vielmehr von Sabinas Aufzeichnungen bestimmt, in denen es einmal heißt: „Wenn ich sterbe, streuen sie die Asche in die Erde, mitten in einem großen Feld, dort pflanzen sie eine Eiche und schreiben: Ich war auch einmal ein Mensch. Ich hieß Sabina Spielrein.“ ANNE KRAUME

Läuft im Kino Brotfabrik. Genaue Termine siehe cinema-taz