Am Abgrund der Geschichte

Mit dem Anschlag von Istanbul appellieren islamistische Terroristen einmal mehr an einen latenten Antisemitismus in der muslimischen Welt. Doch sie entfremden sich damit von ihren Gesellschaften

von DANIEL BAX

Es gibt Antisemitismus und Antisemitismus. Da gibt es dessen verschwiemelte Form wie in der Rede des hessischen Bundestagsabgeordneten Hohmann, und den, den die CDU am Freitag in klare Grenzen außerhalb ihrer Partei verwiesen hat. Dann gibt es den antisemitischen Reflex, der aus linken Intellektuellen wie Mikis Theodorakis oder anderen verwirrten Globalisierungskritikern spricht, die in ihren antikapitalistischen Affekten nicht mehr zwischen „den Juden“, einer israelischen Regierung der Eskalation und dem imperialen Gestus der US-Administration unterscheiden mögen. Und es gibt einen mörderischen Judenhass, der aus den Taten islamistischer Terroristen spricht.

Man möchte kein Jude sein in diesen Tagen: Das Gefühl der Bedrohung ließe sich durch die schiere Häufung antisemitischer Äußerungen und Vorfälle in jüngster Zeit leicht zur Paranoia steigern. Mag auch der alarmierte Tonfall, mit dem manche Medien noch über das leiseste Anzeichen eines angeblich anwachsenden Antisemitismus in Deutschland berichten, eher ein Zeichen für die erhöhte Sensibilität sein: Die reale Gefährdung jüdischer Menschen und Einrichtungen wird dadurch nicht weniger. Sie kann, in Deutschland, von Wiedergängern der nazistischen Ideologie ausgehen, wie es bei dem vereitelten Anschlag von München der Fall war. Sie geht weltweit aber weit eher vom islamistisch gefärbten Terrorismus aus.

So wie der Anschlag auf zwei Synagogen in Istanbul am Wochenende, der sich gegen die jahrhundertealte Existenz jüdischen Lebens im Herzen der Stadt richtete. Bislang wird eine islamistische Splittergruppe namens IBDA-C, eine selbst ernannte „Sturmtruppe für einen islamischen Nahen Osten“, dafür verantwortlich gemacht. Diese Gruppe gibt es seit fast zwanzig Jahren, sie ist bisher aber nur sporadisch in Erscheinung getreten: Mitte der Neunzigerjahre bekannte sie sich zu einem Bombenattentat auf das Café des Marmara-Hotels im Zentrum von Istanbul, bei dem mehrere Menschen starben. Angeblich soll sie auch hinter einem Anschlag auf die türkische Botschaft in Düsseldorf vor mehreren Jahren stehen. Im Spektrum selbst des türkischen Islamismus gilt sie als isoliert. Aber im Netzwerk des globalisierten Terrorismus hat sie offenbar Gesinnungsgenossen gefunden.

Denn die Logik der Anschläge von Istanbul fügt sich in die Logik von al-Qaida, deren Kopf Bin Laden bekanntlich den Krieg gegen alle „Kreuzfahrer und Juden“ erklärt hat. Das ist Teil seiner fixen Idee einer islamisch befreiten Zone, in deren Machtbereich weder ausländische Truppen, Touristen und andere Ausländer noch jahrhundertelang ansässige religiöse Minderheiten ihren Platz hätten.

Diese fixe Idee ist zwar weit von der historischen Realität in den meisten Teilen der islamischen Welt entfernt – Saudi-Arabien ausgenommen, wo sie bezeichnenderweise ihren Ursprung hat. Doch offenbar findet sie weiterhin Anhänger, die dafür sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit sind. Ob es sich dabei um koordinierte Aktionen eines weltweiten Netzwerkes handelt oder ob es jeweils einzelne Gruppierungen sind, die sich lediglich im ideologischen Geist verbunden zeigen, bleibt unklar.

Das Strickmuster der vielen Terroranschläge seit dem 11. September jedoch ist fast immer gleich. Sie werden gegen Touristen und andere Ausländer begangen, insbesondere aber gegen jüdische Einrichtungen, Synagogen oder Treffpunkte. Allmählich beginnt sich das verbindende Muster heraus zu schälen. Es begann mit dem Anschlag auf eine Synagoge auf Djerba, in Tunesien. Dann kam der Anschlag auf eine Diskothek auf der Ferieninsel Bali. Es folgte im vergangenen Herbst das Attentat auf ein Hotel in Kenia, das vor allem von israelischen Touristen frequentiert wurde. Im Frühjahr wurden jüdische Einrichtungen in Casablanca, Marokko, das Ziel tödlicher Selbstmordattentate. Kürzlich erst wieder waren von Ausländern bewohnte Einrichtungen in Saudi-Arabien das Ziel. Und nun die zwei Synagogen in Istanbul.

Ein Produkt der Moderne

Diese Anschläge entspringen dem gleichen Denkmuster, wenn nicht sogar einer orchestrierten Strategie. Hatte Bin Laden nicht postuliert, dass Juden sich nicht mehr ihres Lebens sicher fühlen sollten, schon gar nicht auf „islamischem Boden“? Dabei sind es meist lokale Akteure vor Ort, die sich für die Anschläge verantwortlich zeichnen und als Urheber überführt werden. Die Verbindung zu einem übergreifenden Netzwerk wie al-Qaida kann meist nur gemutmaßt, aber nur selten nachgewiesen werden. Doch kann man sich die nächsten potenziellen Anschlagsziele fast schon ausrechnen.

Schon die Anschläge vom 11. September 2001 trugen eine unterschwellig antisemitische Handschrift, richteten sie sich mit dem World Trade Center in New York doch gegen ein Symbol dessen, was nach antisemitischer Logik seit jeher als Zentrale des globalen Weltjudentums gilt. Dieses Feindbild, das aus der Mottenkiste des alteuropäischen Antisemitismus stammt, hat im Gedankengebäude radikaler Islamisten eine neue Heimat gefunden, wo es neue, böse Blüten treibt – ein Import aus jenem Westen, gegen den er sich wendet. Im Nahen Osten verbindet sich die Aggression gegen die empfundene Übermacht des Westens mit dem Schreckgespenst der „jüdischen Weltverschwörung“. Und so erklärt es sich, dass in solchen Kreisen antisemitische Pamphlete wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in arabischer Übersetzung zirkulieren und gar als seriöses historisches Dokument gehandelt werden.

Dieser Aspekt war nun gewiss nicht der Grund, warum der 11. September in manchen Teilen der arabischen Welt, aber auch darüber hinaus, so etwas wie klammheimliche Freude auslöste: Vielmehr wurde von vielen als Genugtuung empfunden, dass der Anschlag gegen die USA gerichtet war, als Reaktion auf deren Politik in der arabischen Welt. Das Gleiche gilt für die Selbstmordanschläge in Israel, die bewusst auch Zivilisten treffen: Auch sie werden in vielen arabischen Ländern, von Säkularisten wie Islamisten zugleich, bei aller Grausamkeit als legitime Form des Widerstands gegen ein unrechtmäßiges Besatzungsregime verteidigt. Wer will, kann auch darin ein Zeichen für unterschwelligen Antisemitismus sehen. Die gleiche Sympathie wird aber auch in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit den Attentaten zuteil, die sich etwa gegen die amerikanische Besatzung im Irak richtet.

Die Ideologie des radikalen Islamismus knüpft an traditionell von vielen Muslimen geteilte Gefühle an: an die empfundene Konkurrenz zwischen dem Islam und anderen Religionen oder die Kluft zur westlichen Welt, die in der Abhängigkeit von den USA zum Ausdruck kommt. Insofern entspringt der Islamismus, wenn man so will, aus der Mitte der Gesellschaft. Das ändert aber nichts daran, dass der Antisemitismus in der islamischen Welt ein relativ neues Phänomen ist, ein Produkt der Moderne. Als konkurrierender Religion herrschte dem Judentum gegenüber seit der Frühzeit des Islams eine skeptische Distanz. Gleichzeitig genossen Juden und Christen dem Koran nach als „Schriftbesitzer“ aber besonderen Schutz, auch rechtlichen. Darum ging es den jüdischen Gemeinden im Orient im Mittelalter im Allgemeinen weit besser als im christlichen Europa. Ob in Bagdad oder Kairo, in Marokko oder Tunesien: Die jüdische Minderheit trug maßgeblich zur kulturellen Blüte und zum wirtschaftlichen Wohlstand bei. Das galt auch für Istanbul, wohin nach 1492 viele von der katholischen Reconquista aus Spanien vertriebene Juden flüchteten. Der osmanische Sultan nahm sie auf, und so prägten sie das Stadtbild im historischen Zentrum Beyoglu mit seinem engen Geflecht aus Synagogen, Moscheen, europäischen Botschaften und christlichen Kirchen. Später, während des Zweiten Weltkriegs, fanden auch viele Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in der neuen türkischen Republik zeitweise Asyl.

Solidarität mit Opfern

Seitdem sind zwar nach und nach viele Juden aus der Türkei nach Israel oder in andere Länder ausgewandert. Doch noch immer zählt die jüdische Minderheit Istanbuls über 20.000 Mitglieder. Sie verfügt über eigene Schulen und sogar eine eigene Zeitung: Überreste einer Gemeinde, die sich einst in Ladino, der altertümlichen Sprache der Sephardim, verständigte. Als Nato-Mitglied und Bündnispartner der USA pflegt die Türkei zudem enge Beziehungen zu Israel. Und diese erstrecken sich nicht nur auf militärisches Gebiet: Bislang jedenfalls zählte die Türkei unter israelischen Touristen zu den wenigen ungefährlichen Reisezielen in der Region. Dass dies die Türkei zu einem logischen Anschlagsziel für den islamistischen Terrorismus machte, war klar. Zumal die Attentäter vom Wochenende wohl hoffen, damit an einen latenten Antisemitismus zu appellieren, den es auch in der Türkei gibt. Der ehemalige Islamistenführer Necmettin Erbakan etwa hatte einst die Zusammenarbeit der Türkei mit dem Internationalen Währungsfonds gern als „Unterwerfung unter die Zinsknechtschaft des jüdischen Kapitals“ gegeißelt. Und besonders radikalen Islamisten, die das ganze säkulare System ablehnen, bezeichnen selbst Staatsgründer Atatürk als „Dönme“ – als Juden, der zum Islam konvertiert ist. Diese Formel ist ein festes Versatzstück aus dem Repertoire des türkischen Antisemitismus.

Der aktuelle Terrorismus versucht, an solchen latenten Antisemitismus anzuknüpfen und seine Aktionen mit dem Konflikt in Palästina in Beziehung zu setzen. Er setzt darauf, den Antagonismus zwischen den Religionen zu verstärken und in das friedliche Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen einen Keil zu treiben. Tatsächlich aber isoliert er sich damit von jenen Gesellschaften, in deren Namen zu handeln er vorgibt.

Das hat sich etwa in Marokko deutlich gezeigt. Dort haben die Anschläge von Casablanca im Mai eine breite Solidarität mit den Opfern und Entsetzen über die Attentäter ausgelöst. Das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit: Es ist schließlich ein verbreitetes Merkmal des Antisemitismus, dass er den Opfern eine gewisse Mitschuld an ihrem Schicksal unterstellt. Doch die Attentate in Marokko empfand die Mehrheit der Bevölkerung als gegen die eigene Gesellschaft gerichtet: Die Terroristen hätten sich mit ihren Taten außerhalb der Gesellschaft gestellt, sogar außerhalb der Religion.

Ein Zusammenhang der Anschläge mit dem Palästinakonflikt wird von den meisten Marokkanern nicht gesehen oder geleugnet. Was umgekehrt zu dem Paradox führte, dass die Kritik an den Selbstmordanschlägen im eigenen Land die Sympathie für den palästinensischen Widerstand, der sich ähnlicher Mittel bedient, nicht im Geringsten zu schmälern vermochte. Israel ist eben weit. Nicht anders wird es nun in Istanbul sein, wo die angegriffenen Synagogen für die meisten Bürger integraler Bestandteil des Stadtbilds und damit der eigenen, als tolerant empfundenen Kultur sind.

Fundamentalisten wollen den Konflikt im Nahen Osten gern als Auseinandersetzung zwischen zwei Offenbarungsreligionen gedeutet wissen. Das entbehrt zwar, historisch gesehen, jeder Grundlage: Es ist, bei aller religiösen Aufladung, noch immer ein Konflikt um Staatlichkeit und Territorium.

Im Diskurs des radikalen Islamismus wird nicht zwischen dem Judentum in islamischen Ländern und Israel, zwischen den Juden zur Zeit des Propheten und dem heutigen Zionismus differenziert. Viele Muslime tun das aber schon. So weitet sich nicht die Kluft zwischen dem Westen und der muslimischen Welt, wie von al-Qaida beabsichtigt. Sondern die Kluft zwischen dem islamistischen Terror und dem Mainstream der Gesellschaften, die dessen Ideologie nicht teilen und dessen Taten nicht billigen.