■ Jan Philipp Reemtsma forderte in der taz eine neue Deutung der RAF-Geschichte
: Es gibt kein Entweder-oder

betr.: „Die Kontroverse zwischen Jan Philipp Reemtsma und Horst-Eberhard Richter: Brauchen wir einen neuen Blick auf den linken Terror?“, taz vom 27. 10. 2004

Ich gehörte zu jenen, die in den 70er-Jahren im RAF-Umfeld zu sechs Jahren Staatsschutzknast verurteilt worden waren, drei Jahre Isolationshaft inbegriffen. Selbstverständlich war ich – wie bis zum heutigen Tag – politisch motiviert, wie viele andere auch. (Marginalie: Derzeit nähern wir uns unter dem Mythos „Globalisierung“ genau jenen kapitalistischen gesellschaftlichen Bedingungen, die die RAF-Theoretiker seinerzeit fälschlicherweise als bereits gegeben ansahen.) Aber ebenso selbstverständlich – und da ist Horst-Eberhard Richter voll zuzustimmen – waren wir sozialisiert in Elternhäusern, die auf die eine oder andere Art bewusst und unbewusst untrennbar mit dem Naziregime verbunden waren. Mit allen offensichtlichen und weniger offensichtlichen (weil psychischen) Folgen, die dies zwangsläufig hatte. Wirkungen, die wir selbst nicht artikulieren, sondern allenfalls in der Formel vom „Wunsch nach einer anderen Gesellschaft“ wiederum nur rationalisieren konnten.

In einer Gesellschaft, in der „survival of the fitest“ alles bedeutet, ist die Einsicht, dass Psyche und Ratio gleich wichtig für unser Handeln sind, ebenso wenig zu vermitteln, wie in den 70er-Jahren. Ein schädigendes Gesellschaftssystem erzeugt geschädigte Menschen. Ein Blick in gewisse „Dschungelcamps“ spricht da Bände. Dank der jahrelang propagierten Entsolidarisierung und Vereinzelung des „Wir“ ist die Gefahr einer Hartz-IV-RAF zwar verschwindend gering – die eines drohenden ökofeudalistischen Nadelstreifenfaschismus dafür umso größer. WERNER SCHLEGEL, Gelsenkirchen

Ich halte es für unzulässig, von der RAF zu reden, denn auch innerhalb der RAF agierten Menschen ganz unterschiedlicher politischer Bildung und Herkunft. Nicht alle aus dieser Gruppe befürworteten die Entführung der Urlaubermaschine, und es hat harte Kritik gegeben an der Erschießung des amerikanischen Soldaten.

Die Verherrlichung des Jungseins in die 60er-Jahre zurückzuverlegen, halte ich auch für unzulässig, da der Jugendkult ein Produkt der 80er-Jahre ist. Allen aus den Gruppen verzögerte Pubertät zu unterstellen und mangelndes Erwachsensein, ist mehr als Arroganz eines Intellektuellen aus einem Wissenschaftsbereich, der lieber psychologisiert und sozialwissenschaftlich rumschwadroniert statt den Protagonisten politisches Wollen zu unterstellen.

Ganz gefährlich wird es, wenn die Stammheim-Nacht mit ihren Toten gleichgesetzt wird mit dem Massenselbstmord auf Befehl eines religiösen Führers. Niemand war wirklich dabei, außer Irmgard Möller, ein Gespräch mit ihr wäre wohl passender gewesen.

Unbestritten bleibt allerdings, dass in den diversen Autobiografien eine Selbstverherrlichung stattfindet. Unbestritten bleibt, dass vieles falsch gemacht wurde. Unbestritten ist aber auch, dass es einige gibt, die selbstkritisch mit der vergangenen Zeit umgehen.

ILSE SCHWIPPER, Berlin

Im taz-Interview über Franz Josef Degenhardts Lied „Kleinstadtsonntag“ collagiert Herr Reemtsma aus einer vagen Erinnerung heraus zwei Texte unterschiedlicher Thematik, um aus einem in Degenhardts Bänkelsong hineingelesenen allgemein antibürgerlichen Affekt nackte terroristische Mordlust abzuleiten. Wenn man da die beiden Texte nicht immer noch nachlesen könnte!

„Deutscher Sonntag“ („Kleinstadtsonntag“ ist von Biermann) ist ein satirischer Angriff auf die Selbstzufriedenheit, den Konformismus und die Borniertheit des deutschen Spießers, die dem Autor und seinem Publikum seinerzeit gründlich auf die Nerven gingen. Ein MG kommt darin nicht vor. Reemtsmas Zitat (bis auf „Fenster“ statt „Fensterläden“ korrekt) stammt aus „Feierabend“. Der Song behandelt in Form eines Rollentexts die Furcht vor den „Lodenröcken“, den nicht nur in der Vorstellung des Sprechers sich wieder sammelnden Nazis. Diese erwartet er, sich von der Vorstadtidylle nicht täuschen lassend, in seiner verrammelten Wohnung mit dem MG. Man kann in dieser ins Absurde gewendeten Konstruktion auch die Karikatur eines wahnhaften antifaschistischen Alarmismus sehen, der aufgrund traumatischer Erfahrung die Anzeichen einer möglichen Wiederholung zum Anlass für präventive Überreaktionen nimmt. Das Lied besteht dabei entschieden auf der Berechtigung radikaldemokratischer Aufmerksamkeit. RUDOLF SELBACH, Bonn

Ich glaube, dass es nicht ein Entweder-oder gibt bezüglich der Bedeutung der verschiedenen Einsichten, die die Artikel in der taz zu diesem Thema beleuchtet haben. Es mag gut sein, dass Herr Reemtsma mit Recht versucht, bestimmte Verdrängungen aufzubrechen. Die Tiefe des Phänomens ist aber ohne die Verknüpfung zu den Wurzeln der totalitären Vorzeichen nicht ganz verstehbar.

Ich selber bin 59 geboren und erinnere mich sehr gut, dass die RAF-Geschichte in meiner Pubertät prägend war, dass es immer auch um die Frage ging: „Was hättest du getan, wenn du im Dritten Reich hättest leben müssen? Und dass für mich ein kollektives Fragezeichen gestellt war, auch weil ja das Schweigen über die vielen Nazifunktionäre, die sich nach der Befreiung gegenseitig die Westen reinwuschen und nun wieder in den Positionen saßen, das Schweigen war, was die von Herrn Reemtsma beschriebenen Phänomene auflud. Ich weiß noch genau, dass ich froh war, nicht zu direkt mit der Frage konfrontiert zu werden, ob ich bereit bin zu helfen, denn meine innere Entscheidung – auch das kann durch eine pubertäre Steigerung der essenziellen Fragestellungen entstehen – war klar: Ich sehe die Aufgabe des „revolutionären Gewissens“ eher darin, für das Leben zu versuchen, subversiv und konsequent zu sein. Die Konsequenz dieses Gedankens hat dann zu den Versuchen geführt ganz auszusteigen, was ja auch eine gewisse Illusion war.

Was Richter und Reemstma beide falsch machen, ist, das Verstehen dieser Phänomene allein auf psychologischem Gebiet zu belassen. Das, was das Sektenhafte dieser Gruppen an Zuviel in der Frage der konkreten Konsequenz haben, ist im Gegenzug bei diesen ein kleines Zuwenig. RUTH LUSCHNAT, Berlin

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