Der Mann ohne Ideen

Wenn in der Nacht der Ground-Zero-Effekt auftritt, ist es meistens schon zu spät

„Sie haben schon den halben Text hinter sich gebracht. Herzlichen Glückwunsch!“

Zombies kennt man aus den Ritualen haitianischer Voodoo-Zauberer. Wiedererweckte Tote sind’s, die ein Sklavendasein führen und sich nicht entscheiden können zwischen Leben und Sterben. Sie haben keine Ahnung, woher sie kommen und wohin sie gehen. Kaum wissen sie sicher, ob sie überhaupt existieren. Genauso fühlt sich der Mann ohne Ideen, wenn er nach einem langen Arbeitstag den Computer ausschaltet, vor dem er seinen Tag lang emsig saß und in die Tasten hackte.

Der Mann ohne Ideen ist nicht faul. Ideenlosigkeit ist nicht identisch mit Untätigkeit. Im Gegenteil ist die Rastlosigkeit oft ein Anzeichen der Uninspiriertheit. Ich kann auch sagen: „Im Gegenteil ist die Rastlosigkeit oft ein sicheres Anzeichen der allergrößten Uninspiriertheit.“ So ist der Satz noch etwas länger geworden und das Ende des Textes wieder ein Stückchen näher gekommen.

Viele werden sich keine rechte Vorstellung von der Leere machen können, die in jenem bestimmten Teil des menschlichen Gehirns zu herrschen vermag, den Begnadete mir gegenüber hochtrabend als „Mare Inspiritatis“ bezeichnen. Ich kann es schon, denn ich bin der Mann ohne Ideen. Wo bei anderen das Meer der Eingebungen rauscht, lausche ich den Ozeanen der Ruhe in meinem Geist.

Nicht, dass jemand glaubt, ich widerspräche mir. Mag er ruhig und rechthaberisch darauf verweisen, dass die Idee, einen Text über den Mann ohne Ideen zu schreiben, nun doch selbst eine Idee sei – wenn auch keine besonders gute. Ich lasse ihn ausreden, denke mir nichts dabei und bekenne ungerührt: Diese Idee stammt gar nicht von mir! Es war mein Auftraggeber, der sie hatte. Alles, was ich schreibe, kommt von außen, nichts kommt von mir. Nur manchmal, spät in der Nacht, wenn ich einige eingestürzte Satzanfänge vom blanken Boden des Kurzzeitgedächtnisses kehre, stellt sich etwas ein, was ich etwas vage den Ground-Zero-Effekt nennen möchte – die Verheißung eines großen eigenen Ideengebäudes! Nicht die Idee, sondern nur eine Art von Vorahnung. Dann schlafe ich vor Schreck immer sofort ein.

Einfallslosigkeit ist keine Eigenschaft. Dennoch wäre es falsch, mich als einen Mann ohne Eigenschaften zu bezeichnen. Ich habe durchaus Eigenschaften, zum Beispiel ein fotografisches Gedächtnis und das absolute Gehör. Ich bin nicht nachtragend, aber gemein, bin mitfühlend bis zur Aufopferung, sogar mir selbst gegenüber. Zur einen Hälfte grundgut, bin ich zur anderen grundböse. Ich bin gnadenlos im Aufdecken von Unlogik und zugleich unbarmherzig im Produzieren von Widersprüchen. Manchmal ersticke ich fast an der eigenen Paradoxie. Dann wieder erstaunt mich meine stringente Geradlinigkeit, gegen die selbst zwei parallele Geraden ein schlechter Witz sind, da sie sich im Unendlichen schneiden.

„Wenn Sie mir mathematisch beipflichten und bis hierher gekommen sind, dann haben Sie schon den halben Text hinter sich gebracht. Herzlichen Glückwunsch! Vermissen Sie etwas? Vielleicht eine nette kleine Idee für das Ende dieses Absatzes? Haha! Der Mann ohne Ideen schlägt wieder einmal nicht zu!“ Ich schrieb das gerade genauso auf, wie es mir ein Bekannter eingeflüstert hat, von dem ich mich zum Kaffee einladen ließ und drei Zigaretten schnorrte. Wenn ich in meiner Lage eins gelernt habe, dann das: Bestiehl die Welt, nimm alles und von jedem! Schreib deine Umwelt und deine Mitmenschen ab. Von nichts kommt nichts. Und schon gar nicht bei mir.

Es ist der selten in der Nacht auftretende Ground-Zero-Effekt, der mich vor der Verzweiflung rettet. Ist nicht dieser Effekt, denke ich dann, während ich den Computer ausschalte und bereits die bleierne Müdigkeit spüre, die mir gleich jeden Ansatz der großen Ideenkonstrukte, die ich ahnend mir nahe fühle, wieder entreißen und unerreichbar machen wird – ist nicht dieser Ground-Zero-Effekt eine gänzlich eigene, gute Idee? Wo der Mann ohne Ideen war, soll ich werden!

Das Handy klingelt, was mich irritiert, ist es ja immerhin mitten in der Nacht. Mein Auftraggeber ist am Apparat. „Und?“, tönt seine fühllose Stimme in den leeren Hallen meines gut gesäuberten Arbeitsspeichers für spontane Einfälle. „Haste das über den Ground-Zero-Effekt schon fertig? Und haste schon ’ne neue Idee?“ Er ist ja so gemein! Mein Auftraggeber weiß ganz genau, in welchen wunden Punkt er treten muss, um mich zu quälen. Erst wird er mich zappeln, mich stammeln, nach Ausflüchten suchen lassen, wo er doch genau um meine Unfähigkeit weiß, selbige mangels Eingebungen zu artikulieren. Gleich werde ich sein meckerndes teuflisches Lachen hören, und er wird mir sagen, was er sich so als Nächstes ausgedacht hat für mich, den Mann ohne Ideen.

TOM WOLF