Wenn nur die Krise nicht wäre

Die SPD könnte eine schrecklich nette Familie sein. Nie zuvor hat Gerhard Schröder so viel Herzblut vergossen: Viel Lob für „den Hans“ und „die Renate“

aus Bochum JENS KÖNIG

Politik ist das Geschäft des Déjà-vu. Alles schon gesehen, alles schon passiert. Gerhard Schröder muss diesmal wirklich eine große Rede halten, Emotionen soll er zeigen, Pathos, Herz, er muss aus seiner Politik des Kleinklein eine große Erzählung machen und der SPD, seiner sinnhungrigen Partei, endlich das geben, was sie verlangt – wie oft hat man das in den letzten Jahren nicht gehört. Gesehen hat man es nie. Schröder regiert, er kann nicht Pathos, haben seine Leute hinterher entschuldigend gesagt.

Jetzt sitzt der SPD-Vorsitzende auf der ganz in Blau gehaltenen Bühne im Ruhr Congress Zentrum in Bochum, den Stuhl schräg in Richtung Rednerpult gestellt, die Beine übereinander geschlagen, die linke Hand nachdenklich unter sein Kinn geklemmt. Er hört dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer so konzentriert zu, als verkünde der Gewerkschaftsmann gerade die Formel von der ewigen Schönheit für Männer über 50. Schon in dieser ersten Stunde des Parteitages gewinnt man den Eindruck, dass die Körperhaltung des Kanzlers alles andere als Zufall ist: Genossen, seht her, lautet das subtile Signal, ich höre auf euch, ich gebe euch Trost, ich versuch’s vielleicht sogar mal mit Pathos. Anderthalb Stunden später, Schröder ist gerade in den zweiten Teil seiner langen Rede eingeschwenkt, nimmt der große Vorsitzende das P-Wort sogar selbst in den Mund. „Wenn das Pathos denn erwünscht ist“, sagt er plötzlich und nennt gute Bildung für die kommenden Generationen pathetisch „buchstäblich eine Überlebensfrage unserer Gesellschaft“.

Schröder spielt mit seinem Image, er wehrt sich gegen die große sozialdemokratische Erzählung fast körperlich. Vor dem Parteitag ist ihm von allen möglichen Seiten eingeflüstert worden, dass er seiner krisengeschüttelten SPD eigentlich nichts mehr bieten könne, keine neuen ökonomischen Fakten, keine neue Agenda 2010, keine neuen Minister, er könne sie höchstens von seiner Politik überzeugen. Dafür müsse er jedoch auch sich selbst wandeln. Ein bisschen viel verlangt vielleicht von einer Rede. Aber ernst genommen hat der Kanzler diesen Anspruch an diesem Montag allemal.

Dass er sich in dieser neuen, zweiten Haut immer noch nicht so richtig wohl fühlt, ist leicht zu erkennen. Gleich dreimal fleht er seine lieben Genossen geradezu an, seine Überzeugungen, auch seine Sorgen und Nöte, doch bitte ernst zu nehmen. „Ich bin seit 40 Jahren Mitglied der SPD“, sagt Schröder, „und, bitte, glaubt mir, auf weniges bin ich so stolz wie darauf, Vorsitzender dieser großen Partei sein zu dürfen.“

Schröder hält eine sehr sozialdemokratische Rede, fast eine für die alte Mitte der Partei. Dass sie vielleicht zu spät kommt, muss sich der Parteichef in der Generaldebatte eine Stunde später ausgerechnet vom Niedersachsen Sigmar Gabriel sagen lassen. Der beklagt nämlich, dass die Genossen den Kontakt zu den Leuten verloren hätten, die früher die alte Mitte der SPD verkörperten.

Aber noch ringt Schröder um seine Partei. Er verspricht ihr die Aussicht auf eine „neue sozialdemokratische Epoche“, wenn sie in der jetzigen schwierigen Lage nicht verzage. Er führt ihr vor Augen, was passieren würde, wenn die Schwarzen an die Macht kämen: Kopfpauschalen würde es geben, einheitlich für die Sekretärin und den Vorstandsvorsitzenden, und damit das „Gegenteil von gesellschaftlicher Solidarität“. Er ermutigt seine Genossen, die großen sozialdemokratischen Erfolge nicht zu vergessen, und erwähnt in diesem Zusammenhang ausgerechnet die Abschaltung des AKWs in Stade. Er erzählt, dass ihm nur weniges in seiner Regierungszeit so schwer gefallen sei wie „die Entscheidungen zur Rente“. Er erklärt, dass die Agenda 2010 kein Selbstzweck sei, sondern Voraussetzung für neue Spielräume sozialdemokratischer Politik. Schröder schreckt nicht einmal vor der platten, etwas unmotivierten Erwähnung des Heilsbringers „demokratischer Sozialismus“ zurück.

Die SPD, so sieht es aus, könnte eigentlich eine schrecklich nette Familie sein. Wenn bloß die Krise nicht wäre. Der Parteivorsitzende lobt den Otto Schily und „den Hans“, „die Renate“ und den Wolfgang Clement („Ich bin ihm ausdrücklich dankbar.“). Olaf Scholz und Münte kriegen noch ein Extralob. Sie hätten den schmerzhaften Lernprozess der letzten Monate nicht nur selbst durchgemacht, sondern ihn auch für die ganze Partei organisiert. „Das war vorbildlich, dafür danke ich euch beide.“

Als Schröder fertig ist, zoomt die Kamera sein Gesicht auf die Großbildleinwand. Tiefe Falten liegen darin. Erschöpft sieht der Kanzler aus. Er lacht nicht. Den Beifall wehrt er demonstrativ ab. Mehr Herzblut als diesmal hat er noch nie vergossen. Jetzt sollen sie ihn nicht auch noch feiern.