Neue Armut im Münsterland

Die Zahl der Armen im Münsterland hat sich im letzten Jahr verdoppelt. Der Ansturm auf die „Tafeln“ für Bedürftige ist riesig. Doch Stadtlohn und Ahaus wollen ein neues Projekt nicht unterstützen

Die Geschäftsleute spenden nicht, weil sie sagen, es gebe hier keine Armut

VON NATALIE WIESMANN

Die Zahl der Münsterländer, die sich die normalen Lebensmittelpreise nicht mehr leisten können, wächst stetig. Trotzdem wurde die Eröffnung einer Tafel für Bedürftige in der 20.000-Einwohner-Kommune Stadtlohn erst einmal auf Eis gelegt. Obwohl auch dort die Zahl der Armen steigt. „Zusammen mit der Nachbarstadt Ahaus könnten wir hier bis zu 600 Menschen versorgen“, sagt Rossanna Issinger. Als Arbeitslose würde sie sich gerne für dieses Projekt engagieren, erhält aber in ihrer Stadt keine Unterstützung.

Die Tafeln, von denen es in NRW etwa 90 und im Münsterland bisher sieben gibt, funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Ehrenamtliche Mitarbeiter holen bei Supermärkten und Gemüsehandlungen Ware ab, deren Verfallsdatum bevorsteht und verteilen sie kostenlosoder für einen symbolischen Beitrag an sozial Schwache. Einige Tafeln bieten einen Mittagstisch an, andere verkaufen für ein paar Cent gespendete Kleidung.

Trotz relativ geringer Arbeitslosenquote von 8,5 Prozent sind auch im Münsterland immer mehr Menschen auf die Angebote der Tafeln angewiesen: Die bereits bestehenden Einrichtungen versorgen (nach Angaben des WDR) 10.000 bedürftige Menschen. Das sind doppelt so viele wie im vergangenen Jahr.

Das Interesse an neuen Tafeln ist da. „Wir brauchen hier erst einmal nur einen Raum“, sagt Issinger. Nach einer kurzen Anlaufphase könne sich das Projekt mit Spenden und geringen Beiträgen seitens der Bedürftigen selbst tragen. Issinger hat lange bei der Tafel in Borken gearbeitet. Die Geschäftsleute, bei denen Issinger vorgesprochen hat, wollten ihr jedoch weder günstig einen Raum vermieten noch Lebensmittel spenden, „weil es in Stadtlohn keine Armut gibt.“ Und vor allem wollte niemand eine solche Einrichtung in der direkten Nachbarschaft haben. Seit zwei Jahren läuft sie sich die Füße wund nach einem Raum, hat Plakate aus eigener Tasche bezahlt.

Auch bei den Stadtverwaltungen in Ahaus und Stadtlohn wurde die Anfrage nach Räumlichkeiten nicht beantwortet. In einem Schreiben des Ahauser Sozialdezernenten, das der taz vorliegt, heißt es: „Sie haben sicherlich Verständnis dafür, dass ich Ihnen bei einer solchen Frage spontan leider keine konkrete Hilfe anbieten kann.“ Er würde sich jedoch melden, sobald er eine geeignete Lösung sehe. Das war vor vier Monaten, getan hat sich nichts. „Ich habe keine Lust und keine Kraft mehr“, sagt sie. Issingers Mitstreiterin ist bereits abgesprungen.

In benachbarten Städten kämpfen die MitarbeiterInnen mit einem großen Ansturm von Hilfesuchenden. „Wir können nicht mehr jede Anfrage annehmen“, sagt Marita Degeling, Leiterin der Tafel im münsterländischen Bocholt. Es kämen inzwischen auch Menschen aus anderen Orten zu ihnen. Ihre Einrichtung kann mit den gespendeten Lebensmitteln nur 200 Familien in der Woche versorgen. Bei der Eröffnung der Tafel vor drei Jahren waren es noch 40 Familien, die auf Überschüsse aus Supermärkten und Gemüsehandlungen angewiesen waren.

Ähnlich ist die Situation bei der Tafel in Borken. Hier stieg die Zahl der Familien alleine im vergangenen Jahr von 140 auf 180. „Ich gehe davon aus, dass die Not durch Hartz IV noch größer wird“, sagt Gabi Sundermann vom Diakonischen Werk, die die Tafel dort betreut. In Borken seien die Geschäftsleute jedoch sehr engagiert. Hier spendet auch ALDI viele Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden. „Das ist ziemlich einzigartig in Deutschland“, sagt sie.