BETTINA GAUS über FERNSEHEN
: Toleranz in Tüten

Manchmal gibt es Dinge, die noch grauenvoller sind als das Fernsehen. Eine Themaverfehlung aus aktuellem Anlass

Es muss ja nicht immer Fernsehen sein. Man kann auch zu einer Lesung mit Musik gehen, in einer wunderschönen, alten Buchhandlung, deren gediegene Einrichtung eher an eine Bibliothek als an einen Laden erinnert. In den sehr eng bestuhlten Reihen sitzt ein erwartungsvolles Publikum im Alter zwischen 25 und 70 Jahren. Nur ein Gast ist jünger, allerdings deutlich. Nämlich geschätzte anderthalb. Begleitet wird das kleine Mädchen von einer zärtlichen Mutter, die bereits vor Beginn der Veranstaltung alle Umsitzenden streng mustert. Keinen Zweifel lässt sie daran, was sie von uns erwartet. Scherzen und spielen sollen wir mit ihrem Kind, uns alle gemeinsam an der Freude der Kleinen laben und vor allem: tolerant sein. Das Gegenteil von tolerant ist kinderfeindlich. Wer will sich das schon vorwerfen lassen?

Ich. Ich bin wahnsinnig kinderfeindlich, und ich bin es gern. Jedenfalls in Lesungen, in Luxusrestaurants und bei Begegnungen mit Freunden, wo über erwachsene Angelegenheiten gesprochen werden soll. Anders ausgedrückt: überall dort, wo kleine Kinder meiner Ansicht nach nichts zu suchen haben – und wo, wie ich vermute, sich auch kein Kind jemals freiwillig hinbegeben würde. Die überwältigende Mehrheit aller Eltern scheint meiner Meinung zu sein. Es gibt nur sehr wenige Väter und Mütter, die ihre Kinder zum Nobelitaliener statt in die Pizzeria um die Ecke bringen oder eben in eine musikalisch untermalte Lesung statt ins Kasperletheater. Aber es nützt nichts, dass es nur sehr wenige sind. Solange sich die Mehrheit nicht gegen die kleine Minderheit zur Wehr setzt.

Die Mehrheit setzt sich nicht zur Wehr, sondern leidet stumm und macht dazu noch gute Miene. Das kleine Mädchen in der Buchhandlung ist außerordentlich freundlich, geduldig, munter und kontaktfreudig. Es quietscht mit den (leider ebenfalls quietschenden) Geigen um die Wette. Es jauchzt. Das Publikum lächelt. Die unmittelbaren Nachbarn machen kille-kille. Die Musiker winken der Kleinen zu. Man könnte die im Raum wabernde Toleranz in Scheiben schneiden und in Tüten verkaufen.

Die Mutter lächelt stolz und glücklich. Meistens. Gelegentlich wirft sie mir allerdings auch einen vernichtenden Blick zu. Denn ich widersetze mich. Als Einzige. Nur zaghaft, selbstverständlich. Nicht etwa, dass ich wagen würde, zu sagen, was ich denke: „Schaffen Sie endlich Ihr Kind hier raus!“ So tollkühn bin ich nicht. Aber mein Mut reicht doch immerhin so weit, starr geradeaus zu blicken und mein übergeschlagenes Bein nicht als Schaukel zweckentfremden zu lassen. Sondern meinen Fuß – erkennbar indigniert – auf den Boden zu stellen.

Das genügt, um die Kinderfeindin als solche zu identifizieren. Die Mutter, ganz Löwin, ergreift Gegenmaßnahmen. „Pschschscht!“, flüstert sie ihrer Tochter mehrfach in Theaterlautstärke ins Ohr. Das stört noch mehr als alle Lebensäußerungen des entzückenden Kleinkindes. Die Nachbarn schauen irritiert, die Mutter zuckt die Achseln und wirft einen weiteren vernichtenden Seitenblick auf mich. Die ist schuld, sagt dieser Blick, und sie scheint zu glauben, dass damit das Urteil der Umgebung über mich gesprochen ist. Sie irrt. Was sie nicht sieht: den dankbaren Gesichtsausdruck derer, die mir heimlich zublinzeln.

Verschonen sollen sie mich. Ich habe nichts von einer Solidarität, die sich nur dann schüchtern zu artikulieren wagt, wenn die Angreiferin gerade mal in die andere Richtung schaut. Ein einziges Kind am falschen Platz kann jeden Abend ruinieren. Je weniger Kinder bei uns geboren werden, desto ergebener nehmen das die meisten hin. Bloß nicht als kinderfeindlich gelten! Das Mantra einer schrumpfenden Gesellschaft. Ich lasse das mit den Lesungen jetzt wieder eine Zeit lang. Und schaue das nächste Mal wieder fern.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de MORGEN: Kirsten Fuchs über KLEIDER