Skispringen im Flachland

Rund um Bad Freienwalde ist es topfeben, dennoch soll 50 Kilometer östlich von Berlin Deutschlands nördlichstes Wintersport-Paradies entstehen. Drei Schanzen stehen bereits – der Rest soll folgen

„Wir brauchen das besondere Etwas,um die Leute zu unszu locken“

aus Bad Freienwalde RONNY BLASCHKE

Am Anfang triumphierte die Ungläubigkeit und die Fantasie rebellierte. Es dauerte eine Weile, um begreifen zu können, was sie vorhaben, in der kleinen Gemeinde Bad Freienwalde, 50 Kilometer östlich von Berlin. Es wurde getuschelt, es wurde gelacht, doch niemand wollte dem Wintermärchen Glauben schenken, das sich da anbahnen soll im topfebenen Brandenburg: Direkt an der Bundesstraße 158, in einem schattigen Waldgebiet namens Papengrund, soll es entstehen – das nördlichste Wintersport-Paradies Deutschlands. „Die Idee ist so verrückt, dass sie schon wieder genial ist“, sagt Dieter Bosse, dem das Konzept schon 1990 durch den Kopf gegeistert war: Skispringen im Flachland – das klingt so absurd wie Kite-Surfen im Wüstensand. Zumindest auf den ersten Blick.

Dieter Bosse wehrt sich gegen die Macht der Vorurteile. Er kennt sich aus in Bad Freienwalde, in seiner Stadt. Quadratmeter, Kosten und andere Details trägt der 46-Jährige aus dem Kopf vor, mit einer Redseligkeit, gegen die selbst Leverkusens dampfplaudernder Fußballmanager Reiner Calmund wie ein wortarmer Sprachexot daherkommt. „Gigantisch, oder?“ Eine rhetorische Frage, die Bosse regelmäßig zu stellen pflegt im Angesicht des Panoramas, das sich vor seinen Augen ausbreitet. Eine malerische Kulisse, diese Anlage, eingebettet im Dickicht des Waldes.

Ende Oktober sind die ersten drei Schanzen eingeweiht worden. Sie ermöglichen vierzig, zwanzig und zehn Meter weite Sprünge. Die Kosten beliefen sich auf 220.000 Euro. Ein internationaler Schüler-Grand-Prix mit 200 Teilnehmern aus acht Nationen diente als Premierenfeier, 4.000 Zuschauer säumten das Spektakel. Das Tuscheln war längst verstummt, spöttisch gelacht hat auch niemand. Höchstens vor Freude.

Vor zwei Jahren hatte Dieter Bosse schon einmal bauen lassen, damals geschah vieles in Eigeninitiative. Zwei provisorische Schanzen für zwanzig und zehn Meter sollten die Tradition wieder erwecken. Über 40 Jahre hatte sich nichts bewegt, 1958 wurde das Gebiet von der sowjetischen Armee gesperrt. Verblasst war der Glanz vergangener Zeiten, als Bad Freienwalde in den Zwanzigerjahren internationale Top-Springer wie den Norweger Birger Ruud beherbergte, der 1936 olympisches Gold gewann. „Da wollen wir wieder hinkommen“, sagt Günther Lüdecke, 54, der Adjutant von Dieter Bosse. Gemeinsam reanimierten sie den bereits 1923 gegründeten Wintersportverein (WSV). Heute lehren sie über 80 Kinder und Jugendliche die Grundlagen des Skispringens, fast wöchentlich melden sich neue Interessenten. Stefan Wiedmann heißt der begabteste Schüler der Schanzenbrüder. 13 Jahre ist er alt und der erste Brandenburger überhaupt, dem der Sprung ins Sportgymnasium glückte. Das befindet sich im thüringischen Oberhof.

Der eigentliche Coup allerdings schimmert noch in weiter Ferne. Auf der anderen Seite der Bundesstraße sollen drei weitere Schanzen in die stechend grüne Vegetation zementiert werden: für Sprünge von einhundertzwanzig, neunzig und sechzig Metern. Frühestens 2005 rechnet Bosse mit dem Baubeginn, zwölf Millionen Euro soll das Ganze kosten. Schon jetzt schwant ihm ein Hürdenlauf durch die Bürokratie, er befürchtet endlose Gespräche mit Sponsoren und verbale Duelle mit Naturschützern. „Einer muss es ja machen“, schnauft Bosse, der WSV-Vorsitzende. Seine Fantasie kennt keine Grenzen. Er träumt von einer Arena mit 70.000 Zuschauern und einer Rodelbahn und einer Snowboardhalfpipe und einem Sessellift – und mehreren Skiloipen. Und einer Biathlonstrecke und einem Grand Prix. Und einem Weltcup-Springen und einem Freiluft-Konzert. Es sind hochfliegende Pläne.

Schon wieder protestiert die Vorstellungskraft. Höchstens vier Wochen im Jahr schneit es in Bad Freienwalde, dem ältesten Kurort Brandenburgs. Dieter Bosse hat auch darauf eine Antwort: Matten und Kunstschnee sollen die Anlaufspuren aus Keramik ganzjährig nutzbar machen. Im kommenden Jahr wird die bereits erbaute Anlage den Status des Landesleistungszentrums erhalten, irgendwann soll sie zum Bundesleistungszentrum aufsteigen – wenn alles nach Plan läuft.

Klingt nach dem Werk eines geblendeten Hasardeurs, sagen manche und befürchten einen finanziellen Super-GAU. „Ist mir egal“, entgegnet Bosse. Er ist schon immer gegen den Strom geschwommen und hat seine Ziele trotzdem erreicht. „Viele Menschen in Freienwalde stecken den Kopf in den Sand“, sagt er, „sie wohnen nur hier, ich lebe hier.“ Vor zwei Jahren bat man ihn, als Bürgermeister zu kandidieren. Er lehnte ab.

Es gibt nicht viele Sehenswürdigkeiten zu bestaunen im unscheinbaren Bad Freienwalde – ein bisschen Kultur, ein modernes Erholungszentrum und viele kahle Schaufenster. Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Suche nach Arbeit, das Durchschnittsalter liegt bei 57 Jahren. „Wir brauchen das besondere Etwas, um die Leute zu uns zu locken. Das haben wir jetzt gefunden“, sagt Kurdirektor Jens Lüdecke. Er will Bad Freienwalde künftig als wintersportliche Wundertüte vermarkten. Die Farbigkeit des Skisports soll das Grau des Alltags übertünchen.

„So holen wir den Tourismus nach Freienwalde“, sagt Dieter Bosse. Sein Sohn lebt in der Schweiz, seine Tochter in Nordrhein-Westfalen. Sie wollten raus aus Bad Freienwalde. „Viele gehen weg“, meint Bosse und schaut hinauf zum Schanzen-Trio. Dann sagt er: „Machen Sie diesen weißen Fleck mal bekannt. Da muss man einfach verrückt sein.“