„Wahlen im Irak wären derzeit ein Desaster“, sagt Frau al-Souhail

Das Saddam-Regime hat die irakische Gesellschaft verwüstet – schon deshalb braucht die Demokratie viel Zeit

taz: Sie mussten den Irak schon als Kind verlassen. Wie war Ihre Rückkehr nach 35 Jahren?

Safia al-Souhail: Es war ein sehr bewegender Moment. Es war traurig, meinen Vater nicht an meiner Seite zu haben, durch dessen Augen ich den Irak kennen gelernt habe. Und ich war glücklich, endlich zurückkehren zu können. Doch das Ausmaß der Zerstörung ist enorm – damit meine ich nicht die Zerstörung von Gebäuden, sondern die der Persönlichkeit der Iraker, die gesellschaftliche Verwüstung. Durch die Repression des Regimes haben sich die Menschen sehr verändert.

Inwiefern?

Das Baath-Regime hat ein Klima der Denunziation hervorgebracht. Saddam Hussein hat nicht nur die Nationalitäten und Religionen gegeneinander ausgespielt, sondern auch die Familien. Ich habe viele schreckliche Geschichten gehört: von Männern, die ihre Väter oder Brüder anschwärzten, um dadurch an Geld oder eine Stellung zu gelangen. Von Frauen, die ihre Männer loswerden wollten und sie deshalb bei den Geheimdiensten denunzierten.

Saddam hat die einst starken Familienbeziehungen im Irak untergraben, keiner traut mehr dem anderen. Auch die Stämme sind in einem erbärmlichen Zustand. Sie sind zwar weiterhin einflussreich, aber zerstritten. Scheichs, die dem Regime gegenüber loyal waren, bekämpfen ihre Gegner. Die junge Generation weiß nicht mehr, was richtig und falsch ist. Der einzige Maßstab war Saddam. Um das zu ändern, braucht man eine Umerziehung, die ganz unten beginnt.

Das wird Generationen dauern. So viel Zeit werden Sie angesichts der steigenden Gewalt nicht haben.

Aber wir können damit beginnen. Wir müssen die Grundlagen für eine Zivilgesellschaft schaffen, die Menschen lehren, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie ermutigen, sich am Aufbau der Demokratie zu beteiligen.

Müsste der Regierungsrat dazu nicht mehr in Erscheinung treten?

Die Kommunikation muss verbessert werden. Wegen der schwierigen Sicherheitslage ist es kaum möglich, öffentliche Versammlungen abzuhalten. Doch die wichtigsten Parteien haben Wurzeln im Irak, über die sie auch heute mit den Menschen in Dialog treten können. Ich selbst bin im ganzen Land unterwegs und führe Gespräche. Die irakischen Medien müssten mehr Kommunikation schaffen. Das haben sie versäumt.

Liegt es nicht auch daran, dass der Regierungsrat zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist?

Ich habe großen Respekt für seine Mitglieder. Aber in seiner jetzigen Form ist er nicht repräsentativ. Es ist ein richtiger Schritt, ihn zu erweitern. Dabei müssen wir auch den Dialog mit den vielen Baath-Mitgliedern suchen, die sich nur aufgrund der Zwänge anschlossen, aber keine Verbrechen begangen haben. Sie müssen Teil des neuen Irak werden. Auch die Bildung einer Übergangsregierung geht in die richtige Richtung.

Wird die Entscheidungsfindung dann nicht noch schwieriger? Schon jetzt konnte sich der Rat in einer zentralen Frage, der Verfassung, nicht einigen.

Nein, je mehr der Rat alle Strömungen und Gruppen im Irak repräsentiert, umso mehr Akzeptanz wird er auch in der Öffentlichkeit finden. Erst dann hat er die Legitimität für alle Iraker zu sprechen. Die Verfassung muss jedoch von Experten geschrieben werden.

Der höchste Repräsentant der Schiiten, Said Ali Sistani, fordert die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung durch das Volk. Ist das richtig?

Sistani ist ein großer Geistlicher und hat sicher das Wohl unseres Volkes im Auge. Doch eine Wahl zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein Desaster. Wahlen müssen vorbereitet werden, dafür ist wohl erst eine Volkszählung nötig. Wir müssen feststellen, wer wo wahlberechtigt ist. Außerdem ist angesicht der erzwungenen Unerfahrenheit mit Demokratie derzeit die Gefahr groß, dass Leute gewählt würden, die keine Ahnung haben. Und wir müssen an die Rechte der Minderheiten denken.

Wir müssen also Sistani davon überzeugen, dass das Land im Moment nicht reif für Wahlen ist. Der einzige Weg ist eine Verbreiterung der Basis des Regierungsrats bzw. der Regierung. Nur so können wir einen Konsens erreichen.

Dazu gehört auch eine stärkere Beteiligung von Frauen?

Ja. Es ist eine große Schande, dass nur drei Frauen im Regierungsrat vertreten sind, nach dem Mord an Akila Haschimi sind es sogar nur noch zwei, und nur eine Frau ein Ministeramt erhielt. Das muss sich ändern.

Laut einer Gallup-Umfrage sprechen sich 70 Prozent der Bagdader dafür aus, dass Frauen stärker traditionellen und konservativen Rollenbildern folgen sollten …

Nach einer anderen Umfrage können sich 55 Prozent der Iraker vorstellen, dass eine Frau Präsidentin wird. Hier muss sicher noch viel passieren. Doch eine Demokratie, die Frauen aussperrt, ist keine Demokratie. Dazu brauchen wir die Unterstützung von NGOs. Auch Europa kann uns dabei große Dienste leisten.

Europa soll sich im Irak engagieren?

Sicher doch. Die Europäer sollten die Ehre, den Irak neu zu gestalten, nicht den Amerikanern und Briten überlassen. Es gibt viele Wege etwas zu tun. Die Europäer brauchen uns nur zu fragen, wir finden für jeden etwas.

INTERVIEW: INGA ROGG