Die Wahl der Qual

Ob in der Schaubühne, der US-Botschaft oder im Tränenpalast, viele BerlinerInnen verfolgten die US-Wahl gemeinsam. Dass Bush fast sicher vier weitere Jahre regieren wird, führt nicht zu größeren Gefühlsausbrüchen. Report einer langen Nacht

Im Ladenlokal in Mitte ist die Wahl bloß Beiwerk zu Musik und Wernesgrüner-Bier

VON STEFAN ALBERTI

Die Kandidaten sehen von nahem nicht ganz so gut aus wie auf den Plakaten. Stirnglatze. Bauchansatz. Krawatte auf halb acht. Gut, es sind ja auch nicht die echten Kandidaten, dieser David Gieselmann und Ronald Kukulis. Und ihr Staat, der Kukulismus, ist nur eine Fiktion der Schaubühne am Lehniner Platz. Und doch ist die Pseudowahl einer der Höhepunkte einer Zwölf-Stunden-Tour durch das Berlin der Wahlnacht. Wahlbetrug bis Bestechung, die beiden geben alles, bevor die Gäste im Theatercafé kurz nach Mitternacht ihren Präsidenten wählen. Gieselmann müsste es schaffen – der singt besser, als Kukulis mit Cookies bestechen kann.

Die Berliner Wahlbeobachtung beginnt schon fünf Stunden früher. Das Amerikahaus der US-Botschaft hat ein paar hundert Leute zur Wahlparty geladen. US-Bier, ein halbes Dutzend Internetbildschirme mit den neuesten Hochrechnungen der Washington Post und der New York Times. Wahlplakate beider Kandidaten, rote, weiße und blaue Luftballons, Cheerleader. Und viel Analyse, These, Prognose. Einfacher gesagt: kultivierte Kaffeesatzleserei. Wie bei William Downey. Die Demokraten hätten mehr Leute mit Handys, die Wahlumfragen aber liefen doch übers Festnetz und würden deshalb bessere Werte für Bush ergeben, erzählt der Berliner Chef der Democrats Abroad, deutscher Ableger der Kerry-Partei.

Downey, früher evangelischer Pfarrer am Klinikum Steglitz, verspricht sich noch viel von der Wahl. Zwei- bis dreimal so viele Berliner US-Wähler wie vor vier Jahren hätten er und seine Leute mobilisiert, „darunter welche, die seit 30 Jahren hier leben und bisher nie gewählt haben“.

Unter den Gästen fällt eine dunkelhaarige Frau auf, die als Einzige eine US-Flagge um ihre Schultern gelegt hat. Anita Lochner, US-Schauspielern und seit vielen Jahren in Berlin, widerlegt das Vorurteil, bloß die Bush-Leute seien in exhibitionistischer Weise patriotisch. An ihrem blauen Kleid steckt der Kerry-Edwards-Button, kleiner daneben und meist von der Flagge verdeckt, die Vorgängerausgabe „Gore-Lieberman“. Lochner gehört zu denen, die Verwandte haben, die bei einem Bush-Sieg ans Auswandern denken. Auch Downeys Sohn, derzeit an der Ostküste, will für diesen Fall nach Deutschland, um nicht noch zur Armee und in den Krieg eingezogen zu werden.

Auf der Treppe zum ersten Stock lehnt sich Mario Czaja ans Geländer. Die Botschaft hat den CDU-Abgeordneten aus Hellersdorf eingeladen, weil er in vierzehn Tagen für drei Wochen zu einem US-Programm für „Young leaders“ in die USA fliegt. 2001 war dafür Klaus Wowereit ausgeguckt, damals Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Der musste aber noch absagen: Ihm war der Bürgermeisterposten dazwischengekommen.

Die Zerrissenheit von Czajas CDU-Fraktion macht auch vor den US-Wahlen nicht Halt. Czaja würde „sicher nicht Bush“ wählen, „ich bin Demokrat“. Zwei Stunden später wird sich sein parlamentarischer Geschäftsführer Frank Henkel eines der blauen Wahlplakate von Bush und seinem Vize Cheney sichern. Natürlich würde er für den stimmen, keine Frage, sagt er.

Das Amerikahaus entlässt seine Gäste gegen elf, noch bevor die ersten Wahllokale an der US-Ostküste schließen. Auch beim Zwischenstopp in der Schaubühne ist noch kein Staat ausgezählt. Das passiert erst beim dritten Halt des Abends im Tränenpalast am Reichstagufer. Kerry-Anhänger der Initiative Vote 44 – Kerry soll der 44. US-Präsident werden – haben hierher eingeladen. Musik und der Wim-Wenders-Film „Land of Plenty“ bei freiem Eintritt, das füllt das Haus und lässt vor dem Eingang noch knapp 50 Leute warten. „Es sieht gut aus für Kerry“, sagt auf der Bühne eine Vote-44-Frau in einer Filmpause. Die ersten Zahlen besagen anderes. Bush liegt schnell 39 zu 3 vorne. Hörbare Reaktionen bleiben aus. Keine Buhs, kein einvernehmliches „Shit“.

Es ist eine wiederkehrende Erfahrung dieses Abends. Große Emotionen über Bushs Führung und nahezu sicheren Sieg bleiben aus. Auch als auf CNN Experte Robert Novak ein paar Stunden später Kerry als arroganten und unbeliebten Kandidaten bezeichnet. Da sind zwar an anderer Stelle „Buhs“ zu hören, aber die kommen von der Leinwand, von den Zuschauern am CNN-Studio in New York.

Auch in einem Ladenlokal in der Auguststraße in Mitte scheint die Wahlberichterstattung bloß Beiwerk zu Musik und Wernesgrüner-Bier aus der Flasche zu sein. Dazu passt, dass der Beamer nur ein unscharfes Fernsehbild auf die Altbauwand unter der Stuckdecke wirft, die Moderatoren darauf wie Computerfiguren wirken. Der Ton ist abgedreht, viele der zwei, drei Dutzend Köpfe gucken ohnehin nicht hin. Draußen vor der Tür steht ein Transporter voll Elektroausrüstung, der Polizeifunk aus US-Städten einfängt, das bizarrste Unternehmen dieser Wahlnacht.

Viel nobles Anzugtuch und Gel, aber auch nicht mehr Emotionen gibt es gut einen Kilometer weiter Unter den Linden im Bertelsmann-Haus, wohin das Aspen-Institut, CNN, RTL und n-tv geladen haben. Als sich CNN kurz vor vier endlich zu einer Prognose traut und Bush in den entscheidenden Staaten Florida und Ohio vorn sieht, gibt es weder lauten Jubel noch Ärger. Ohnehin ist die Zahl derer, die die Wahl bis zum bitteren Ende verfolgt, gering. Brechend voll war es um Mitternacht, jetzt aber sind auch Nicolas Zimmer und Martin Lindner nicht mehr zu sehen, die Fraktionschefs von CDU und FDP im Abgeordnetenhaus.

Es ist unwirklich, zu dieser Zeit zum Cinestar-Kino am Potsdamer Platz zu wechseln, wo die größte öffentliche Party angekündigt war. Das SonyCenter liegt verlassen, der Kinoeingang gleichfalls. Im Untergeschoss bei den Kinosälen aber harren noch gut 300 Leute aus. Wie Connie Gunderson hinter ihrem Infotisch, auf dem Flyer ihrer Democrats Abroad und Anti-Bush-Shirts ausliegen. Die mag die Sache natürlich nicht als schon gelaufen ansehen. „Die starken Stimmbezirke für uns sind doch noch gar nicht ausgezählt.“ Und ihr Heimatstaat Minnesota komme ja auch noch. Das klingt genauso schönrednerisch wie die Sprüche diverser Kerry-Sprecher, die via CNN auf der Kinoleinwand und auf Monitoren zu sehen sind. Bloß dumm, dass fast jede neue Zählung das Gegenteil besagt und für Ohio einen immer größeren Bush-Vorsprung sieht.

Während von Anfechtung und Juristen die Rede ist und für die Demokraten dunkle Zeiten heraufziehen, wird es draußen am Potsdamer Platz nach zwölf Stunden US-Wahl wieder hell. Bye, bye, USA, guten Morgen, Berlin. Und die andere Wahl? Vor dem Schlafengehen noch ein Anruf bei der Schaubühne. Ja, Gieselmann habe das Rennen gemacht, mit 13 zu 2 Wahlmännern Wie schön. Und nein, man werde das Ergebnis nicht juristisch anfechten.