Scharpings Bauchgefühl

In der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz war die Prominenz von einem Wahlsieg John Kerrys überzeugt

Fast hätte es wenigstens zu einem kleinen Skandal gereicht: Ausgerechnet Jeff Gedmin, Leiter des Berliner Aspen Instituts und damit so etwas wie der Stellvertreter George W. Bushs auf deutscher Erde, hatte zum Auftakt der Berliner CNN/RTL/n-tv-Wahlparty verkündet: „Ich habe so ein Gefühl, es wird Kerry.“ War es Opportunismus oder doch tiefere Einsicht? Das mulmige Gefühl der ersten Stunden verflog jedenfalls schnell: „Es scheint knapp zu sein“, analysierte Gedmin mit bestechender Brillanz gegen drei Uhr früh vor den Kameras des Nachrichtensenders n-tv – und entschwand Richtung Heia.

Während man am Vormittag noch mit nervenden Bush-Anhängern („Four more years!“), die CNN bevölkerten, konfrontiert war, wurde „It’s too close to call“ zum Hasswort des Abends. Denn mehr gab es eigentlich nicht zu sagen. Dabei hatte das Publikum treu auf Kerry gesetzt: laut Gästeprognose stand ein Erdrutschsieg des demokratischen Herausforderers bevor.„Es wird Kerry, das sagt mir mein Bauchgefühl“, hatte auch Rudolf Scharping frohgemut gegen Mitternacht verkündet. Und weil der Ex-Verteidigungsminister schlicht keinen echten Bauch hat, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Mit jedem Staat, den Bush für sich entscheiden konnte, wird es in der feudalen Bertelsmann-Repräsentanz unter den Linden leerer. „Für wen machen die das eigentlich?“ fragte irgendwann jemand in die Tiefe des Saales, ein Herr um die sechzig erzählt, er sei zuletzt vor Jahrzehnten für einen Muhammad-Ali-Boxkampf so lange aufgeblieben, und der Guardian-Korrespondent in Berlin zieht schon mal die Schuhe aus: Rote Wollsocken. Ziemlich doppeldeutig an einem solchen Abend, schließlich ist rot die Farbe der Republikaner.

Während es die CNN-Wahlparty in London ständig ins internationale Fernsehen schafft, interessiert sich nur n-tv für das Berliner Treiben. Im Behelfsstudio stehen Kerry und Bush als Pappkameraden, fieserweise hat Kerry einen solchen Schatten unter der Nase, dass er von weitem wie Saddam Hussein zu besten Bart-Zeiten aussieht. Um halb vier packt ein junger Mann Kabel und Mikrofone ein: „n-tv macht jetzt Schluss. RTL hält die Stellung.“ Die Gästeprognose ist bei 65 Prozent zu 35 Prozent für Kerry eingefroren. STEFFEN GRIMBERG