Wählen, Warten, Weinen

An den Aktivisten in New York und Los Angeles hat es bestimmt nicht gelegen. Sie waren am Telefon, haben Wähler aktiviert und an Kerry geglaubt

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL
,AUS LOS ANGELES WOLF-DIETER VOGEL

New York, Galerienviertel Chelsea, 13 Uhr Ortszeit: In der American Fine Arts Gallery an der 22ten Straße hat die Avantgarde-Künstlerin Andrea Frasier ein paar Klapptische und -stühle für die Gäste aufgestellt, teilt Stifte und Zettel an die Gäste aus und kocht Kaffee. Auf den Zetteln, die Frasier verteilt, sind die Telefonnummern von potenziellen Kerry-Wählern in den Wackelstaaten notiert. Die Künstlerin instruiert die Gäste, alle anzurufen, um die Mitbürger daran zu erinnern, ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Die Polit-Guerilla-Gruppe Move On hat die Aktion organisiert. Der Andrang ist groß. Überall Leute mit gezückten Handys. Die Wichtigkeit dieser Wahl hat die sonst so beschäftigten New Yorker an einem normalen Werktag zur Tat gedrängt: „Viele meiner Freunde meinen, wir seien in derselben Situation wie Deutschland 1933“, sagt Ted Porter, ein elegant gekleideter Architekt. Tom Burke, der einen Computerladen betreibt, befürchtet, dass eine zweite Bush-Periode „das Amerika der nächsten 50 Jahre“ verändern würde: „Ich mache mir wirklich Sorgen.“

Los Angeles, 12 Uhr Ortszeit, Vorort Monrovia: „Zum Stimmbüro geht’s hinter der Bushaltestelle rechts, dann die Huntington Street runter“, erklärt der freundliche Gärtner. Mindestens zwei Wagen stehen hier vor jedem Haus, die Gärten sind gepflegt, auf den Türschildern sind Namen wie Gomez, Sanchez oder Ramírez zu lesen. Vereinzelt hängen kleine Schilder an den Zäunen, „Vote for Bush/Cheney“. „A stronger America with Kerry/Edwards“, kontern die anderen. Lange Schlangen vor dem Wahllokal. „Ich wähle, was hier alle wählen“, sagt eine mexikanischstämmige Frau. „Bush mag hier keiner“, flüstert ein junger Mann mit Baseball-Kappe. Andere klagen, sie müssten zur Arbeit, könnten nicht ewig in der Schlange warten.

New York, 15 Uhr Ortszeit, Hauptquartier des Bürgervereins NYPIRG: In einem winzigen Kellerraum sind 15 Telefonkabinen an der Wand entlang aufgereiht, in denen Freiwillige seit 6 Uhr früh Anfragen und Beschwerden entgegen nehmen. „Wir haben jetzt schon beinahe 2.000 Anrufe“, sagt Neal Rosenstein, der Koordinator der Bürgervereinigung. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, krächzt der Polit-Aktivist zwischen einem Anfall von Reizhusten, einem Radiointerview und einem Gespräch mit einem 19-jährigen Latino, der wissen will, wie seine Schwester denn vom Gefängnis aus wählen könne. „In den Wahllokalen ist das Chaos ausgebrochen“, ruft Rosenstein. „Einige Wahlmaschinen sind kollabiert. Viele Wahlhelfer sind total überfordert. Und in zwei Wahllokalen haben sie die Wähler aufgefordert, sich nach der Partei aufzustellen. Zum Haareraufen.“ Zum Glück seien in New York die politischen Verhältnisse klar. Wäre New York das Zünglein an der Waage, gäbe es eine Katastrophe: „Was hier passiert, ist alles anfechtbar.“

Los Angeles, 14 Uhr Ortszeit, Innenstadt: Drei Totenköpfe aus Zuckerguss, eine Flasche Rum und knallgelbe Blumen umsäumen auf einem kleinen Altar die Fotos verstorbener Angehöriger. Arnulfo Estéban Arungo steht nahe der Union Station, im Pueblo de Los Angeles, um die Toten zum Essen einzuladen – eine Tradition, die in seiner mexikanischen Heimat dieser Tagen überall zelebriert wird. Ob er schon gewählt habe? „Ja, natürlich“, er sei sehr katholisch, und als Katholik müsse man Bush wählen, sagt der grauhaarige Mann.

New York, 17 Uhr Ortszeit, Wahllokal an der Wall Street: Zwei Wahlmaschinen, die aussehen wie Passbildautomaten, verunstalten eine mit Marmor ausgekleidete Art-Déco-Eingangshalle des Bürogebäudes zwei Blocks südlich der Börse. Seit sechs Uhr morgens stehen die Leute bis auf die Straße Schlange. Der livrierte Portier Alija arbeitet seit 20 Jahren hier und hat schon viele Wahlen in seiner Lobby miterlebt. Aber einen Andrang wie heute habe es noch nie gegeben. Er findet das gut: „Wir brauchen das.“ Aus einer der Wahlkabinen tritt Ian Quan-Soon, ein Schwarzer mit adrettem Einreiher, und verkündet stolz, dass er soeben Kerry seine Stimme gegeben habe. Nicht, weil er Angst um die Demokratie habe, sondern aus rein wirtschaftlichen Gründen: „Ich glaube, wir stehen am Rand eines sozialen und finanziellen Desasters.“

Los Angeles, 16 Uhr Ortszeit, Hauptquartier der Bürgerbewegung Naleo: Noch nichts Neues aus dem Osten. Dennoch laufen in den Räumen der Assoziation zur Unterstützung lateinamerikanischer Wähler (Naleo) die Leitungen heiß. 20 Jugendliche arbeiten freiwillig, um die Wahlbeteiligung von Latinos zu fördern. Einwanderer aus ganz Kalifornien rufen an, wollen sich informieren oder Unregelmäßigkeiten berichten. Etwa jener junge Mann aus Santa Ana, der nicht auf der Wählerliste auftaucht, obwohl er doch schon an den vorigen Wahlen teilgenommen hatte. Zwei Anrufe zur örtlichen Wahlkommission sind nötig, um die Sache zu klären. „Über hundert Anrufe gehen hier jede Stunde ein,“ sagt Naleo-Mitarbeiterin Erica Bernal. „Die Leute in den Stimmbüros haben einfach keine Ahnung.“ Ob sich die Arbeit der letzten Monate rentiert? „Wir gehen davon aus, dass mindestens eine Million mehr Latinos zu den Urnen gehen“, sagt sie. Aber für wen werden sie stimmen?

Los Angeles, 17.30 Uhr Ortszeit, Vorort Monrovia: Darell Aranda sitzt auf seinem Sofa und schaut in den Fernseher. Die ersten vagen Angaben aus den umkämpften Gebieten treffen ein. Wesentlich mehr Latinos seien in Florida wählen gegangen, heißt es. Trotzdem liegt Bush eindeutig in Führung. Kein Grund zur Aufregung für den Gewerkschafter. „Auf die Prognosen kann man nichts geben“, sagt Aranda, dann macht er sich auf den Weg, um seine Stimme abzugeben. Für die Demokraten, versteht sich. „Alle Gewerkschafter wählen die Demokraten“, sagt er und heftet sich einen Aufkleber ans Hemd: „I voted“.

New York, 21 Uhr Ortszeit, Meatpacking District. Ein modisches junges Publikum strömt in die Kellerbar des Maritime Hotels an der 9th Avenue, ein japanisch dekoriertes Gewölbe im Ausgehviertel der Stadt. Die Organisation Downtown for Democracy, die im Wahlkampf mit spektakulären Aktionen für Kerry Furore gemacht hatte, lädt zur Party. Die Stimmung ist übermütig und siegesgewiss – die ersten zwei Stunden läuft auf der Großleinwand sogar statt CNN der Kabarett-Sender Comedy Central, der den Nachrichtensender parodiert. Als um 11 Uhr der Wackelstaat Pennsylvania an Kerry fällt, johlt der Saal, die Leute sind euphorisiert.

Los Angeles, 20.05 Ortszeit, Vorort Pasadena: Auch in Los Angeles sind die Wahllokale geschlossen, die Straßen leeren sich. Nur die Demokraten haben angekündigt, in Hollywood zu feiern. Im Wohnzimmer von Ernesto Saldana und Corina Benavides treffen die ersten Prognosen für Kalifornien ein. Stück für Stück hat sich Bush einen Vorsprung durch die dünn besiedelten Bundesstaaten im Zentrum erkämpft: Wyoming, Kansas, Nebraska. Nun scheint sich das Blatt zu wenden. Kerry holt auf, sagt die TV-Moderatorin.

Gewerkschafter Aranda ist auch vorbeigekommen, um mit seinen Freunden bei Chips und Bier auf Ergebnisse zu warten. Ernesto Saldana und Corina Benavides engagieren sich in Migranten-Gruppen. Sie sind aktiv. Vor zwei Wochen erst haben sie vor der L. A. City Hall gegen Übergriffe auf illegal in Kalifornien lebende Latinos protestiert. Nun sitzen sie hier in einem Einfamilienhaus im Vorort Pasadena und hoffen, dass Kerry gewinnt. „Auch wenn er im Wahlkampf gar nichts zum Thema Migration gesagt hat“, wie Saldana kritisiert.

New York, 0 Uhr Ortszeit, Kellerbar des Maritim Hotel: Kurz nach Mitternacht schlägt die Nachricht ein: Florida geht an Bush. Die Feierlaune erhält einen ernsthaften Dämpfer. Marcos Udagawa, der später in der Nacht Platten auflegen soll, steht still an der Bar und nippt an seinem Bier. „Ich verstehe einfach die Leute in der Mitte dieses Landes nicht.“ – „Das sind Leute, die nach einfachen Lösungen für komplexe Dinge suchen“, wirft Maria Diaz de Leon, ein junger Künstler, ein. Dessen Freund sieht das noch krasser: „Politisch gesehen sind die geistig zurückgeblieben.“ Frustration bahnt sich ihren Weg.

Los Angeles, 21.10 Uhr Ortszeit, Pasadena: „Bush hat Florida gewonnen!“ Die Meldung lässt alle im Wohnzimmer aufschrecken. Eine erste Entscheidung ist gefallen, nur wenige Minuten später meldet „Fox News“ den nächsten Tiefschlag für die Kerry-Anhänger: Auch Ohio geht an die Republikaner. Das Kopf-an-Kopf-Rennen scheint ein unerwartet schnelles Ende zu finden. Plötzlich klingelt das Telefon. Ernesto Saldana hebt ab, ein Freund aus dem Osten ruft an. Nein, nein, in Ohio sei noch nichts entschieden. Kurzes Aufatmen.

New York, 2 Ohr Ortszeit, Kellerbar des Maritim Hotel: Langsam schwindet die Dynamik im Saal. Katerstimmung macht sich breit. Der erhoffte Sieg für die Demokraten bleibt aus – die Kerry-Kampagne klammert sich an die noch nicht ausgezählten Stimmen in Ohio. Die Wahlkämpfer sind in ihren Sesseln versunken und starren ungläubig auf die Leinwand. „Unsere Arbeit war gut“, tröstet sich Erik Stowers, einer der Gründer von Downtown for Democracy. „Wir haben den Demokraten einen Haufen Wähler zugeführt.“ Trotzdem haben mehr als 50 Millionen Bush gewählt. Mit von zahlreichen Dosen Brooklyn Lager schwerer Zunge sagt Stowers: „Ich kann das nachvollziehen. Ich bin selbst in einer fundamentalistisch christlichen Familie aufgewachsen. Was nicht heißt, dass ich es mag.“ Dann lässt er sich Arm in Arm mit einer Mitstreiterin auf einem Sofa nieder und richtet sich auf eine lange Nacht ein.

Los Angeles, 22 Uhr Ortszeit, Pasadena: So recht will niemand daran glauben, dass Ohio noch die gleiche Spannung verspricht, für die vor vier Jahren Florida gesorgt hat. Die Latinos sitzen verloren vor dem Fernseher und blicken ins Leere. Sie könnten heulen. CNN dröhnt: „Kerry gewinnt in Michigan, Bush in Nevada. Entscheidend bleibt der Ausgang in Ohio, und der steht erst in elf Tagen fest.“ Ob aus der Party der Demokraten in Hollywood noch was wird? Ein Freund, der vom Fest aus anrufen wollte, hat sich noch immer nicht gemeldet.