Neues freigelegt: Michael Kumpfmüller liest im Literaturzentrum aus „Durst“
: Mythos Mutterliebe

Was hat es auf sich mit der Mutterliebe? Es ist erstaunlich, wie viele junge Frauen vermeinen, beim Anblick fremder Babys den Instinkt der Mutterliebe in sich anspringen zu spüren. Beweis dieser angeblich natürlichen, also biologischen Reaktion sollen ja Reflexe der Augen sein: erweiterte Pupillen. Dennoch ist es Frauen heute gesellschaftlich möglich, sich für ein Leben ohne Kinder zu entscheiden. Mutterschaft ist also verhandelbar, Mutterliebe nicht. Sie scheint nicht nur natürlich, sie hat den Status des Heiligen: Sie ist unantastbar, unhinterfragbar.

Die Realität ist schwieriger, kennt viele Grauzonen. Eine Mutter aber, die ihre Kinder tötet, begeht einen der größten Tabubrüche überhaupt. Zu Recht besteht dieses Tabu, aber es wird gebrochen, gar nicht so selten. Wer einen genaueren Blick auf diese Taten verweigert, weil das als Zumutung erscheint und die Täterinnen eines solchen Blicks per se unwürdig sind, macht es sich angesichts dieser Realität sehr einfach. Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller hat sich eine solche Tat genauer angesehen. In seinem neuen Roman Durst, aus dem er jetzt im Literaturzentrum lesen wird, unternimmt er den Versuch einer Einfühlung in eine Frau, die ihre Kinder zu Tode kommen lässt.

Anstoß gab der reale Fall von Daniela F., die im Sommer 1999 ihre beiden Kinder allein in der Wohnung zurückließ und für zwölf Tage bei ihrem Freund einzog, nur ein paar hundert Meter entfernt. Die Kinder sind verdurstet. Davon hat niemand im Plattenbau etwas mitbekommen; auch als sie mit Kochlöffeln an die Scheiben schlugen, reagierte niemand darauf. Dieses Detail hat Kumpfmüller aufgenommen, wie auch die trostlosen Plattenbauten und die Hitze des Sommers. Seine Conny ist Anfang zwanzig und hat drei Kinder von drei verschiedenen Männern. Die fünfjährige Tochter lebt bei den Eltern, die drei und vier Jahre alten Jungs zieht sie alleine auf. „Sie hatte keinen Plan und wusste nicht, wohin, aber das war ihr egal, auch dass sie jetzt erst mal heulte (...), mit ihrem lächerlichen Koffer, dieses pummelige Mädchen, als liefe sie einfach aus ihrem Leben.“ Da hat sie die Söhne schon in ihr Zimmer eingeschlossen, ausgestattet mit ein paar Tetrapacks Orangensaft und Würstchen. Eine Strafe soll es sein. Sie will weg von den Kindern, die ihr fremd sind. So fremd wie die Männer, die sie gezeugt haben. Fremd ist sie sich selbst, steht bezuglos in ihrem Leben. In dem es keinen Halt gibt. Sie zieht zu ihrem „Liebhaber“. Nimmt sich die Rückkehr immer wieder vor. Wird viel zu spät da sein. Nach 13 Tagen.

Kumpfmüller beschreibt jeden einzelnen Tag. Fast immer der Perspektive Connys folgend, ihren Gedanken, ihren abgedämpften Wahrnehmungen nachgehend, ihre Leere auslotend, entwirft der Autor ein Leben, das sich vor allem durch die Abwesenheit von Lebensnotwendigen auszeichnet: Achtung und Fürsorge. Was es gibt: Sex, Gewalt, Alkohol. „Ich fick dich gern“, wenn sie seine Phantasien bedient, zollt der Mann ihr so seine Anerkennung. Manchmal will Conny diese verweigern, ihn verlassen, rumoren andere Wünsche – doch gelingt ihr die Verweigerung nicht, bleibt sie so stumm, wie sie es immer war.

Die Kunst Kumpfmüllers besteht darin, von all dem zu erzählen, ohne es banal wirken zu lassen. Und ohne zu psychologisieren und zu rechtfertigen. Schlimme eigene Kindheit, Mangel an Liebe usw. – alles schon zigmal gehört, möchten viele abwehren. Aber der Autor nimmt das Bekannte und legt doch Neues frei. Etwas, das zuvor nicht sichtbar war und das auch nach der Lektüre nicht zu benennen ist. Am Ende steht keine Erklärung, aber die Notwendigkeit eines genaueren Blicks. Ein Blick, der es sich nicht so einfach macht, die erfahrene Nichtswürdigkeit Connys schlicht zu verlängern. CAROLA EBELING

Michael Kumpfmüller: Durst. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 208 S., 16,90 Euro Lesung: Fr, 21.11., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38