: Seltsam, dass Opa eine Deutsche lieben konnte
Polnische und deutsche Schüler haben die jüngste Geschichte ihrer Länder erforscht. Das Ergebnis: ein Buch, das historische Daten mit Leben füllt
VON ANNA LEHMANN
Justyna Dzbiks Oma war eine in Bessarabien, Rumänien, geborene Deutsche. Als das Gebiet 1940 vertraglich an die Sowjetunion fiel, wurde sie heimgeholt ins Reich und in der Provinz Posen angesiedelt, aus der vor ihren Augen gerade die Polen vertrieben wurden. Nach Kriegsende traf sie Justynas Opa, der frisch im schlesischen Zgorzelec angesiedelt worden war. Die deutsche und der polnische Vertriebene heirateten.
Justynas Familiengeschichte ist in dem Band „Grenzerfahrungen“ nachzulesen, der am Dienstagabend von der Körber-Stiftung unter dem Dach der Evangelischen Akademie vorgestellt wurde. Die Arbeiten in dem auf Deutsch und Polnisch erschienenen Buch sind Ergebnisse eines Geschichtswettbewerbs für SchülerInnen, der alljährlich in beiden Ländern ausgeschrieben wird. Unter dem Motto „Nahe Geschichte“ beleben Schüler die abstrakte Historie von Pakten, Abkommen, Kriegen und Konferenzen zwischen Polen und Deutschland mit eigenen Forschungen.
Justyna war 15, als sie ihrer deutschen Wurzeln gewahr wurde und anfing, danach zu recherchieren. Unglaublich erschien es ihr damals, dass der Opa, ein Pole, eine Deutsche lieben konnte. Justyna befragte daraufhin die Angehörigen ihrer weit verstreuten Familie, deren sie habhaft werden konnte, reichte die Niederschrift der Ahnenforschung zum Wettbewerb ein und gewann einen Preis.
Dieser beschert ihr vier Jahre später die Einladung nach Berlin und einen Platz auf dem Podium neben Wladislaw Bartoszewski. Der polnische Außenminister a. D. hat zum Buch ein Vorwort beigetragen und ragt, in der Mitte der Tafel sitzend, als personifizierte 82-jährige europäische Geschichte heraus. Nach der Zukunft der Ost-West-Beziehungen befragt, holt er zunächst in die Vergangenheit aus. Und weil er, wie er sagt, noch zur Generation des Papstes gehört, dauert die Antwort ein halbe Stunde.
Bartoszewski entrollt seine Biografie als Sohn katholischer Kaufleute in Warschau, der im Abitur über Lessings „Minna von Barnhelm“ schrieb, von den Deutschen nach Auschwitz deportiert und nach Kriegsende von den Polen inhaftiert wird. Er streift seine Jahre als Botschafter in Wien und als Außenminister unter postkommunistischen und konservativen Regierungen. Ja, Bartoszewski redet viel, aber das tut er geistreich. Das deutsch-polnische Verhältnis ist für ihn eine „ungeliebte Liebe“. Die Polen streckten die Arme gen Westen aus, doch dort sei der Wunsch nach Verbrüderung nicht sehr ausgeprägt.
Justyna hat die Skepsis zum EU-Beitritt Polens in Spanien zu spüren bekommen, wo sie dieses Jahr im Urlaub war. „Viele denken, die Polen trinken häufig Alkohol, sind arm und ungebildet“, berichtet sie in einwandfreiem Englisch. Zu Deutschen hat sie trotz hier lebender Tanten keinen Kontakt. Vorbehalte gegen den Nachbarn kenne sie jedoch nur von den Älteren. Da seien, bedingt durch die Kriegserlebnisse, auch Hass und Misstrauen zu finden.
Einer der deutschen Wettbewerbsteilnehmer, Guido Wagner, hat über ein Zwangsarbeiterlager in Hoffnungsthal geschrieben. Er befürchtet, dass die Osterweiterung revanchistische Tendenzen hochspült. Das befürchtet auch Justyna, wenn sie an das Zentrum gegen Vertreibung denkt. Das Zentrum ist ihrer Meinung nach nicht geeignet, gegenseitige Ängste und Vorurteile abzubauen.
Malgorzata Mazurek, die zweite Vertreterin der polnischen Jugend, sieht das ähnlich. „Zurzeit ist der Diskurs über das Zentrum eine elitäre Diskussion. Die Mehrheit der Polen hat keine Ahnung und reagiert mit Ablehnung. Man müsste die Debatte auf eine breite Basis stellen, über Vertreibung im Allgemeinen reden, nicht nur über deutsch-polnische Geschichte.“
Die 24-Jährige promoviert gerade über die Wirtschaft in der Volksrepublik Polen und der DDR. Sie spricht fließend Deutsch und ist mit einem Franzosen verheiratet. Von westlicher Ablehnung des EU-Beitritts Polens habe sie noch nie gehört. Ihre Bilanz zum Beitritt ihres Landes fällt gemischt aus. In Polen reagierten viele verärgert über die Abriegelung der Ostgrenze.
Wladislaw Bartoszewski kann die Vorbehalte der Menschen hüben und drüben verstehen. „Aber ich kann sie nicht akzeptieren.“ Man soll die Hoffnung nie aufgeben, ist sein Credo. Hätte man ihm damals, als die Deutschen in seine Heimatstadt Warschau einmarschierten, gesagt, dass er eines Tages das Bundesverdienstkreuz tragen würde, er hätte gesagt: Du spinnst.
Justyna folgt den Worten ihrer Oma: „Es ist völlig egal, ob jemand Pole, Deutscher oder Jude ist, Hauptsache ein anständiger Mensch.“
Alicja Wancerz-Gluza (Hg.): „Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte“. Erschienen bei der Körber-Stiftung Hamburg (14 €)