bücher für randgruppen
: Aura der Objektivität

Im April 2001 erschien anlässlich des 50. Gründungsgeburtstags der Goethe-Institute eine Sondermarke der Deutschen Post mit einer sonderbaren Weltkarte. Stolz meldete der damalige Generaldirektor des Goethe-Instituts, Prof. Hilmar Hoffmann: „In dieser internationalen Umgebung fühlen wir uns wohl. Die Briefmarke zeigt auch von der Gestaltung her unsere Institute als globalen Akteur der deutschen Kultur.“

Leider hatte der globale Akteur der deutschen Kultur das Mekka der Germanisten, nämlich Island, auf der Weltkarte vergessen, während viel kleinere Inseln wie beispielsweise das nordsibirische Koljugew deutlich zu erkennen waren. Die taz berichtete als einzige deutsche Tageszeitung über den Skandal, der zu einer erfolglosen Unterschriftenaktion unter Germanistikstudenten in Island führte: „Stampft die Marke ein!“

Von einer mindestens ebenso erstaunlichen Begebenheit berichtet die Autorin Ute Schneider in ihrem Buch „Die Macht der Karten“. Im Mai 2004 gab Irland eine Sondermarke zum EU-Beitritt der zehn neuen Länder mit entsprechender Farbmarkierung heraus. Leider wurde dabei der Beitrittskandidat Zypern mit Kreta verwechselt. Auch diese Marke wurde ungeniert weiterverwendet und nicht aus dem Verkehr gezogen.

In ihrer Einleitung betont Schneider die Bedeutung des Kartenwesens, das ja heute von einer Aura der Objektivität umgeben ist. In zehn Kapiteln werden Fragen des „Abbildens der Realität“, des konstruktiven Charakters der Karten, die ihnen innewohnende Weltsicht, ihre Bedeutungen, Absichten und Subtexte behandelt. Die Darstellung umfasst die Kartografie vornehmlich seit dem hohen Mittelalter und im europäischen Raum und somit das Verlagern des Bildzentrums von Jerusalem nach Washington beziehungsweise Zürich, je nachdem. Die klare Sprache und zahlreiche Beispiele wie etwa die – leider unmeisterlich reproduzierte – Weltkarte des Portugiesen Fra Mauro machen die Lektüre angenehm. Interessante Details und wichtiges Grundwissen über Geschichte und Bedeutung des Kartenwesens werden jedenfalls sehr deutlich vermittelt, kleinere Extrakapitel, beispielsweise zum Thema Kartografie und Kunst, sorgen für gedankliche Auflockerung.

Gut, es werden heute keine Seemonster mehr in den Atlantik gemalt, und Kalifornien wird nicht mehr als Insel dargestellt. Aber es ist unglaublich, welch verzerrte Darstellungen und Klischees in der aktuellen Kartografie noch zu finden sind. Die Autorin dokumentiert ein paar markante Beispiele und analysiert sie sorgfältig. So den „modernen Kinderatlas“, der das südliche Afrika überwiegend mit Pflanzen und Tieren bebildert: „Städte und moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel, so die Botschaft der Karte, gibt es in diesem Teil der Welt nicht.“ Diese Karte transportiert in junge Köpfe also bereits Müll. Andere dagegen Zeitgeschichte wie das Polens Aufteilung besiegelnde Kartendokument mit den Unterschriften von Ribbentrop und Stalin – ein grüner Buntstiftstrich quer durch die Landkarte. Sehr aktuell auch die Karte der zweigeteilten USA, Blau (Gore) und Rot (Bush) in Relation zur Bevölkerungszahl der einzelnen Staaten.

Natürlich fehlen in Ute Schneiders schönem Werk nicht die Klassiker der Kartografiegeschichte. Etwa die von Herrn Waldseemüller im Jahr 1507 gedruckte Karte, die erstmals Nord- und Südamerika als Kontinent darstellte und diesen erstmals mit dem Wort „America“ nach dem italienischen Seefahrer Americus versah. Von den einst tausend hergestellten Exemplaren der Karte existiert heute nur noch ein einziges, das im Jahr 2001 die Bibliothek des amerikanischen Kongresses kaufte. Und endlich wird klar, warum Europa, Japan und die USA sich in der oberen Hälfte der Karten befinden, Afrika, Australien, Südamerika aber unten – die Welt würde ja sonst Kopf stehen.

WOLFGANG MÜLLER

Ute Schneider: „Die Macht der Karten“. Primus Verlag, Darmstadt 2004, 144 Seiten mit vielen farbigen Abb., 39,90 Euro