Helfen, wenn der Problemberg noch klein ist

Ab sofort soll in allen nordrhein-westfälischen Kommunen Familien mit Problemen schneller und früher geholfen werden. Dafür gibt es kein Geld vom Land, aber neue Beratungen für vernachlässigte Kinder und überforderte Eltern

GELSENKIRCHEN taz ■ Die Alarmglocken für gefährdete Kinder hängen ab sofort tiefer. Gestern beendete Familienministerin Birgt Fischer (SPD) in Gelsenkirchen das Modellprojekt „Soziales Frühwarnsystem“. Es sei so erfolgreich gewesen, dass jetzt landesweit neue Hilfen für überforderte Familien entstehen sollen. „Wir wollen jetzt eingreifen, bevor es zu echten Notsituationen kommt“, so Fischer. Bisher würden Familien oft erst unterstützt, wenn die Konflikte offensichtlich seien.

Ein solches Programm kann auf viele hilfesuchende Familien setzen, die unter finanziellen oder sozialen Problemen leiden: 660.000 Menschen leben in Nordrhein-Westfalen von der Sozialhilfe, eine nicht erfasste Anzahl von Kindern lebt in einem von Gewalt geprägten Alltag. Das Familienministerium schätzt die Zahl der vernachlässigten Kinder auf mindestens 100.000. Ein gewachsenes Armutsrisiko und steigende Arbeitslosigkeit werden die Probleme in Zukunft noch verschärfen. Schon jetzt gebe es vielfältige Anlaufstellen für Familien, so Fischer, aber jetzt solle der Staat handeln, bevor aus überschaubaren Schwierigkeiten Problemberge würden.

Sechs Städte in NRW haben das neue Konzept seit 2002 ausprobiert, Bielefeld, Dortmund, Emmerich, Herne, Essen und der Kreis Siegen-Wittgenstein gehörten zu den Vorreitern. Sie alle haben unterschiedliche Ziele: In Bielefeld suchten Kinderklinik und Jugendamt ehrenamtliche Patinnen für Familien mit Neugeborenen, die mit der stressigen Situation offensichtlich überfordert waren. Sie halfen im Haushalt oder fuhren zum Beispiel mit zum Kinderarzt.

Dortmunder KindergärtnerInnen hatten immer häufiger mit verhaltensauffälligen Kindern zu kämpfen. Jetzt wurden zusammen mit dem Jugendamt erstmalig Kriterien entwickelt, um die Ursachen zu erforschen. Ein Kind, dass plötzlich nervös und hibbelig wurde, litt unter der Ehekrise seiner Eltern. Eine Eheberatung brachte wieder Ruhe in die Familie.

In Emmerich konzentrierte sich das soziale Frühwarnsystem auf Familien in schwierigen und ärmlichen Wohnverhältnissen. Den Familien wurde unkonventionell geholfen: Ihre Wohnung wurde entmüllt und renoviert, Gebrauchtmöbel organisiert. Damit die Räume nach ein paar Wochen nicht wieder genauso verwahrlost aussahen, lernten die Eltern, das Chaos im eigenen Haushalt in den Griff zu bekommen, die Kinder konnten in den Familien bleiben.

Bisher gab es nur wenige Fälle, in denen Familien die Einmischung von außen ablehnten. „Die große Mehrheit ist sehr froh“, sagte Erwin Jordan vom Institut für soziale Arbeit in Münster, das das Projekt wissenschaftlich begleitet hat. „Familien werden nicht bevormundet, sondern nur angeleitet.“ Sie hätten jederzeit das Recht auf Verweigerung, einige Mütter in Bielefeld hätten zum Beispiel keine Patinnen gewollt.

Mit dem Ende des Modellprojekts versiegt auch die Landesförderung, das Ministerium hat bisher 400.000 Euro in das System gepumpt. Zukünftig gibt es für alle Kommunen NRWs nur eine Servicestelle. ANNIKA JOERES