„Es gab in der DDR nicht nur Unterdrückung“, sagt Werner Bramke

Die DDR wird von den Historikern zu sehr als totalitäres System betrachtet – der Alltag wird zu wenig erforscht

taz: Herr Bramke, Sie haben die einseitige Aufarbeitung der DDR-Geschichte kritisiert. Was ist zu einseitig?

Werner Bramke: Die Sicht auf die politischen Strukturen dominiert eindeutig. Und dadurch wird der Eindruck erweckt, die politischen Strukturen haben die ganze Wirklichkeit ausgemacht.

Und das war nicht der Fall?

Ich will damit nicht sagen, dass die Erforschung der politischen Strukturen unwichtig sei. Aber die eigentliche Lebenswirklichkeit wird dadurch nur schwer wiedergegeben. Das Starren auf politische Strukturen lässt den täglichen Ärger außer Acht. Man denke nur an die schlechte Versorgung, mit Obst, den Mangel an Ersatzteilen. Ich hatte deshalb kein Auto, weil ich nicht 15 Jahre darauf warten wollte und keine Lust hatte wegen eines neuen Reifens nach Rostock zu fahren.

Das klingt eher nach Ärger als nach Unterdrückung. Wird die DDR repressiver gemacht, als sie es war?

Viel repressiver. Ja, es gab vielfältige Repressionen. Aber deren Erscheinungen haben sich stark gewandelt. Die Friedensgebete und vor allem Demos, die im September 89 begannen, wären in den 50er und 60er Jahren brutal niedergeknüppelt und die Verhafteten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden.

Sie waren in der DDR Wissenschaftler und später neun Jahre für die PDS im Sächsischen Landtag. Ist es nicht erwartbar, dass sie so reden?

Genauso wird argumentiert. Es wird nicht auf die Argumente gehört. Der war ja im Wissenschaftsbetrieb der DDR, also muss er befangen sein. Man weiß von vornherein, was rauskommen soll, und so ordnet man die Fakten zu.

Ist das Bild der DDR in der Geschichtswissenschaft starr – oder ändert es sich?

Das einseitige Starren auf politische Strukturen wird seit einiger Zeit durch differenzierte Ansätze aufgelöst. Forscher aus dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam sehen die Totalitarismustheorie bereits in der Agonie. Und aus der Berliner Außenstelle des Münchner Instituts für Zeitgeschichte kommen Korrekturen, die mich überraschen. Die Kollegen fordern dort: Weg von politischen Schlagworten! Die Alltagswelt war anders.

Warum hat der Blick auf die Strukturen dominiert?

Das hängt mit dem vorherrschenden Konzept zusammen, der Totalitarismustheorie. Es ist möglich, damit Teile des realen Sozialismus zu erfassen, der Zugang zur ganzen Wirklichkeit wird jedoch eher verstellt. Hannah Arendt hat gesagt, dass sie ihr Modell nur auf faschistische Staaten und Stalins Herrschaft, nicht aber auf andere Staaten anwendet. Genau das aber wird heute noch gemacht. Einige maßgebliche Stimmen, etwa Christoph Kleßmann und Jürgen Kocka, haben von vornherein vor der Rückkehr zur Totalitarismustheorie gewarnt. Aber sie konnten sich nicht durchsetzen.

Warum ist die Totalitarismustheorie so beliebt?

Jene, die sich der DDR-Geschichte zugewandt haben, kommen mehrheitlich aus der politikgeschichtlichen Richtung, was ein generelles Problem für die Geschichtsforschung ist. Denn dabei geht es auch um politische Ziele. Hier geht es um die Delegitimierung der DDR, indem man sie von vornherein mit dem Nationalsozialismus vergleicht.

Prägt dieses DDR-Bild denn unser Selbstverständnis?

Grundsätzlich glaube ich, dass ein Geschichtsbild die Gegenwart nur wenig prägt. Aber die, die aus der DDR kommen und die Publikationen zur Geschichte lesen, müssen sich fragen: Wo komme ich denn hier vor? Und das führt dann zu einer Abschottung. Viele ehemalige Oppositionelle, sogar Gegner aus meinem Bekanntenkreis, sehen heute in der DDR mehr Positives als ich.

Also Ostalgie als Reaktion auf ein verzerrtes DDR-Bild?

Sie wird dadurch begünstigt. Wer sich zu Unrecht angegriffen fühlt, neigt in der Tat zu einer Art Bunkermentalität, dazu, sich einzuigeln und Kritik von vornherein abzuweisen.

Meinen Sie auch die Bürgerbewegung, die ein Schwerpunkt der DDR-Forschung ist?

Die Geschichte der Bürgerbewegung wird fast nur von früheren Oppositionellen gedeutet. Sie waren Akteure und Kronzeugen zugleich. Die Opposition wird nur als Opposition gesehen, das System in schroffer Gegenüberstellung von Machthabern und Opfern. Die fließenden Übergänge von Machtteilhabe, Anpassung und Widerstand werden zu wenig berücksichtigt. Das Problem ist, dass die Ex-Bürgerrechtler für ihre Geschichtsschreibung nicht kritisiert werden.

Warum?

Aus Angst, Heroen zu beschädigen, die nicht beschädigt werden dürfen. Wir haben in Deutschland eine erfolgreiche Revolution gehabt, initiiert durch Vertreter der Bürgerbewegung. Alles, was sie machen, ist richtig, niemand traut sich, auch nur ein kritisches Wort zu sagen. Im Grunde ist das eine Tragödie. So ähnlich ist es Sozialdemokraten und Kommunisten nach 1945 gegangen. Sie waren gegen Hitler, sie haben Widerstand geleistet, niemand hat ihnen widersprochen. Sie wurden selbstbewusster und haben sich dann in einer Legendenbildung verfangen. Und wurden zu kritiklosen Unterstützern der bestehenden Macht.

Ist das wirklich ohne Weiteres auf heute übertragbar?

Ich sehe heute bereits Tendenzen. Etwa in der Arbeit der Gauck-Behörde, jetzt Birthler-Behörde. Hier wird neues Unrecht produziert. Die Behörde übergibt den Medien auf völlig undurchschaubare Art Materialien, die zu Vorverurteilungen führen. Es wird die Zeit kommen, wo diese Art der Vergangenheitsbewältigung hart kritisiert wird.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN