„Eine neue Kapitalismus-Kritik wäre nötig“, sagt Herr Negt

In der SPD mangelt es an Ideen für eine gerechtere Gesellschaft. Deshalb gibt es auch keine Opposition gegen Schröder

taz: Herr Negt, Ihr Vater war SPD-Mitglied. Wie lange?

Oskar Negt: Von 1918 bis zu seinem Tod, 1982.

Würde er die Partei heute noch wieder erkennen?

Das glaube ich schon. Es gibt ja diese alten Anhänglichkeiten von SPD-Mitgliedern, die eigentlich nicht zerstörbar sind.

Sie haben sich 1998 einen „nachhaltigen Macht- und Politikwechsel“ versprochen. Ist dieser eingetreten?

Nein, er ist nicht eingetreten. Mir ist die Analyse der SPD zu pragmatisch. Es ist nicht das gemacht worden, was ich unter Nachhaltigkeit verstehe.

Was fehlt?

Wir befinden uns in einer Welt der Umbrüche, die von betriebswirtschaftlicher Rationalität dominiert ist. Dinge, die mit Moral und Kultur zu tun haben, kommen viel zu kurz. Es fehlt so etwas wie eine Bestandsaufnahme des Umwandlungsprozesses. Der Parteitag in Bochum ist Ausdruck von großen Verlegenheiten. Man weiß nicht, in welche Richtung man geht. Es gibt ein moralisches Vakuum in der gesamten Gesellschaft. Daran nimmt auch die SPD teil.

Bis 1998 war das zentrale Projekt der SPD Umverteilung. Welche Vision hat heute der Parteitag kommuniziert?

Es wird immer wieder von der Erbschaft- und Vermögensteuer gesprochen. Aber offenkundig traut sich die Regierung nicht wirklich, der Kapitalmacht Paroli zu bieten. Es wäre viel stärker eine neue Kapitalismuskritik nötig.

Hat die SPD überhaupt noch eine Vision?

Es geht um Fragen der Beteiligungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Menschen mit einer Vorstellung von einer neuen Gesellschaft, in der es gerechter zugeht, sind in der SPD gut aufgehoben. Das soziale Gewissen in dieser Partei ist durchaus wach.

Aber von der Verteilungsgerechtigkeit will sich die SPD gerade verabschieden.

Das halte ich für völlig unsinnig. Der verblasene Begriff von Gerechtigkeit, der diese Lücke füllen soll, nimmt der Partei im Grunde ihr Identitätssiegel. Die traditionellen Kennzeichen der SPD sollen aufgegeben werden.

Ist soziale Gerechtigkeit zeitlos gleich? Oder muss man den Begriff stets neu definieren?

Eine Gesellschaft von chronischer Kargheit ist etwas völlig anderes als eine mit einem verschwenderischen Reichtum. In unserer heutigen Überflussökonomie ist auch die Verteilungsgerechtigkeit eine andere. Die drei Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank haben zusammen 51 Millionen Euro Jahresgehalt, das ist genau der Betrag, der den Hochschulen in Niedersachsen jetzt entzogen wird. Das ist ein moralischer Skandal. Er zeigt, dass Verteilungsgerechtigkeit eine viel größere Rolle spielen sollte.

Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher begründete ihre Reformen mit dem Satz: „There is no alternative.“ Das Gleiche sagt jetzt Gerhard Schröder.

Wenn man sagt, der Kapitalismus ist das letzte Wort der Geschichte, dann verengt das natürlich die Perspektive. Ich glaube, dass die Wahrnehmungsfähigkeit von gerecht und ungerecht bei Schröder größer ist. Aber der Glaube an die Alternativlosigkeit eint sie.

Selbst wenn es für den Kanzler Gerhard Schröder wenig Spielraum gibt: Richtet er nicht seine Partei zugrunde?

Die Zustimmungswerte sind natürlich fatal. Die Regierung hat sich in zu kurzer Zeit zu viel vorgenommen. Die langfristige Perspektive verschwindet. Im Augenblick ist eine Enttäuschung da, gerade die Kernwähler bleiben weg. Das hat schlimme Folgen. Das Misstrauen gegenüber dem gesamten Parteiensystem nimmt zu. Wenn der Angstrohstoff in der Gesellschaft wächst, könnte das gefährliche Tendenzen zur Folge haben, etwa Rechtsradikalismus.

Die SPD-Politik bedroht also den sozialen Zusammenhalt?

Das Gefühl, dass es gerecht zugeht, ist ein wesentliches Bindemittel der Gesellschaft. Der Zweifel daran, der jetzt vor allem auf die Regierenden übertragen wird, treibt die Gesellschaft auseinander.

Gibt es überhaupt noch eine Nachfrage nach mehr Individualisierung?

Die Individualisierung ist ja überhaupt nicht mit größeren Freiheitsräumen und größerer Autonomie verknüpft. Den Menschen werden Verantwortungen aufgebürdet, die sie so überhaupt nicht erledigen können. Schon das Wort Ich-AG ist eine gruselige Vorstellung: Das Ich, die realitätsprüfende Instanz, als Aktiengesellschaft! Zukünftig werden Gemeinwesen und Gemeinsinn wieder eine sehr viel stärkere Rolle spielen.

Warum gibt es in der SPD kein Gegengewicht zum Kurs von Schröder?

Es gibt eine Stagnation im Vorstellungsvermögen, wie eine andere Gesellschaft aussehen kann – daher rührt sich auch die innerparteiliche Opposition nicht.

In Ihrer Abschiedsvorlesung 2002 haben Sie für die Wiederwahl von Schröder geworben. Würden Sie dies wieder tun?

Ja. Ich habe aber auch schon in einem öffentlichen Brief an den Kanzler die Perspektivlosigkeit und Theorielosigkeit der Regierung kritisiert. Es ist ja nicht so, dass die Menschen keine Opfer bringen wollen. Aber sie müssen auch wissen, wofür. Das kommt zu kurz.

Fällt es Gerhard Schröder schwer, die Einschnitte vorzunehmen?

Da bin ich sicher. Leider ist es aber so, dass sich diese Regierung nicht an die Reichen herantraut.

INTERVIEW: A. SPANNBAUER