SPD: ERNSTHAFTEN WIDERSTAND MUSS SCHRÖDER NICHT MEHR FÜRCHTEN
: Modernisieren durch Schweigen

Der große Meinungskampf ist ausgeblieben. Drei Tage lang debattierten die Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag in Bochum, und man sollte meinen, dass es mitten im Herbst der Reformen und nach einer Serie verlorener Wahlen genügend Stoff für heftige Kontroversen gegeben hätte. Nichts davon. Die Delegierten machten sich zwar ein wenig Luft mit dem schlechten Wahlergebnis für den Generalsekretär. Aber niemand ist aufgestanden, um den Umbau des Sozialstaats grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Fehlte den Delegierten einfach nur der Mut? Wollten sie der Bundesregierung mitten in der Krise nicht auch noch in den Rücken fallen? Mochten sie angesichts mieser Umfragewerte keinen öffentlichen Streit zelebrieren?

Die Antwort ist viel bitterer. Der Parteitag hat gezeigt: Gerade jene Sozialdemokraten, die seit Monaten eine Debatte über die Reformpolitik einfordern, wollen sie in Wahrheit gar nicht führen. Sie ahnen, dass sie dabei allzu viele ihrer alten Gewissheiten aufgeben müssten. Sie wissen im Grunde, dass die Verteilungspolitik der Siebziger heute nicht mehr zu bezahlen, dass sie womöglich auch gar nicht mehr wünschenswert ist. Aber statt sich darauf wirklich einzulassen und sich auf die mühsame Suche nach neuen Perspektiven zu begeben, auch nach einer in die Zeit passenden Definition von Gerechtigkeit, laden sie die Schuld an ihrer Pein lieber bei anderen ab – beim Generalsekretär etwa oder bei Wirtschaftsminister Wolfgang Clement.

Lieber verlegen sich die Sozialdemokraten auf eine alte Untugend, die ihre 140-jährige Parteigeschichte prägt – auf einen bigotten Spagat zwischen Theorie und Praxis. Es ist kein Zufall, dass Reformkanzler Gerhard Schröder just auf diesem Parteitag in Bochum ein Bekenntnis zum Begriff des „demokratischen Sozialismus“ ablegte. Gerade in jenen Epochen ihrer Geschichte, in denen die SPD von der Verwirklichung ihrer Utopien besonders weit entfernt war, richtete sie sich besonders gerne an den pathetischen Formeln ihrer Geschichte auf. Das war schon im deutschen Kaiserreich so, als die Partei umso inniger an ihrer Revolutionserwartung festhielt, je mehr sie sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangierte.

Alle Versuche, die Programmatik der Partei an ihre neue Praxis anzupassen, sind in den vergangenen Jahren kläglich gescheitert. Das begann schon mit den Versuchen des damaligen Kanzleramtsministers Bodo Hombach, nach dem Wahlsieg von 1998 an die „New Labour“-Programmatik des Briten Tony Blair anzuknüpfen. Gewiss, damals stand dieser Wunsch noch im Widerspruch zu einem Regierungshandeln, das die Krise des Wohlfahrtsstaats mit ein paar Zwangsmaßnahmen gegen Minijobs und Scheinselbstständige bewältigen wollte. Erfolglos blieb aber auch der Vorstoß des heutigen Generalsekretärs, den Begriff des „demokratischen Sozialismus“ zur Disposition zu stellen – oder, als die Basis darüber erschreckte, doch wenigstens darüber zu diskutieren, wie er sich mit neuem Inhalt füllen ließe.

Es wird also dabei bleiben, dass die meisten Sozialdemokraten die Reformen nur mit zusammengebissenen Zähnen unterstützen. Aber immerhin: Sie unterstützen sie. Mit ernsthaftem Widerstand muss Schröder nach diesem Parteitag nicht mehr rechnen. Das zeigte bei den Parteiwahlen nicht zuletzt das Scheitern der Reformgegnerin Sigrid Skarpelis-Sperk, die mit ihrem Nein zur Gesundheitsreform die Regierung in Bedrängnis brachte. Ihr Vergehen: Sie tat, was viele andere Sozialdemokraten auch gern getan hätten. Aus Sicht der anderen gerierte sie sich als Heldin des Widerstands, während sie selbst aus Parteiräson zustimmten und sich dafür im Wahlkreis beschimpfen ließen. Das nahmen sie ihr übel.

Trotz des widerwilligen Pragmatismus bleibt den Genossen aber eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem, der bei aller Kälte draußen wenigstens in der Partei die Herzen wieder wärmt. Nach einem, der Kritiker nicht barsch und wortkarg abfertigt wie der abgestrafte Scholz, sondern der wortgewaltig um sie wirbt – wie es etwa der Niedersachse Sigmar Gabriel auf dem Parteitag ein bisschen zu auffällig tat. Das weiß Schröder ganz genau, und deshalb reagierte er so heftig auf den Versuch der niedersächsischen Genossen, den Generalsekretär zu Fall zu bringen. Der Kanzler hat die Partei einmal mehr bezwungen, aber er weiß selbst: Es bleibt ein schaler Sieg. RALPH BOLLMANN