Verteidiger eines Unbekannten

Er nennt ihn beim Vornamen, sagt „Murat“. Er kennt ihn nur von Fotos

AUS BREMEN POLLY SCHMINCKE

Miami im Mai 2002. Bernhard Docke kann bis hinüber nach Kuba gucken. Zumindest bei gutem Wetter. Er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dort drüben auf der Insel sein nächster Fall sitzt. Ganz hinten im Südosten, im Camp Delta, Guantánamo Bay. Aber was kümmert ihn Kuba? Docke sitzt in Florida. Hier sagt der Bremer Anwalt als sachverständiger Zeuge aus, um einen in Deutschland vorbestraften Amerikaner vor der Todesstrafe zu retten.

Kaum ist er zurück aus dem warmen Miami – in Gedanken noch beim Schicksal des Angeklagten in den USA –, kommt eine türkische Frau in sein Büro in der Bremer Innenstadt. Äußerlich wirkt Rabiye Kurnaz gefasst. Hinter der Fassade steckt eine verzweifelte Mutter, die wissen will, was mit ihrem Sohn Murat passiert. Seit dem 3. Oktober 2001 hat sie ihn nicht mehr gesehen. An diesem Tag war er heimlich nach Pakistan geflogen. Er wolle eine Koranschule besuchen, erzählte er den geschockten Eltern am Telefon. Was nach dem Anruf genau geschah, weiß keiner. Bekannt ist nur, dass er von US-Soldaten festgenommen und wahrscheinlich im Januar 2002 nach Kuba geflogen wurde. Im Frühjahr 2002 schrieb er noch zwei Postkarten und einen Brief aus Camp X-Ray, in denen er seine Unschuld beteuert. Seitdem hat seine Familie kein Lebenszeichen mehr von ihm.

Wo auch immer Rabiye Kurnaz versucht, etwas über sein Schicksal zu erfahren, steht sie vor verschlossenen Türen. Beim deutschen Außenministerium kann man nichts für ihn tun, weil Murat Kurnaz – obwohl in Bremen geboren und aufgewachsen – kein deutscher Staatsbürger ist. Auch das türkische Konsulat hilft ihr nicht weiter, die Botschaft der USA sowieso nicht.

Jetzt kann uns nur noch ein Anwalt helfen, denkt sie. Ihr wird Dockes Kanzlei empfohlen. Er ist einer der wenigen Fachanwälte für Strafrecht in Bremen, spricht gut Englisch und kennt das Rechtssystem der USA.

Gut anderthalb Jahre später sitzt Bernhard Docke in seiner Bremer Kanzlei am Schreibtisch. „Mein erster Gedanke war: Mensch, nu warst du gerade ein paar Kilometer von Kuba entfernt, und jetzt wieder so was“, sagt er. „Aber es ist natürlich ein komplett anderer Fall“, korrigiert er sich. Diesmal gibt es weder eine Akte noch einen Staatsanwalt. Noch nicht einmal eine Anklage. Trotzdem zögert der 48-Jährige keinen Moment, den Fall anzunehmen. „Ich dachte, ich könnte helfen und etwas erreichen mit meiner Arbeit. Ich hätte nie geglaubt, dass es eine so lange Hängepartie werden würde“, sagt er. Auch nicht, dass er nun mehr Öffentlichkeitsarbeiter für den Fall ist denn Strafverteidiger.

Als Anwalt ist er machtlos. Denn Murat Kurnaz – inzwischen 21 Jahre alt und bekannt als „der Bremer Taliban“ – sitzt als „illegaler Kämpfer“ im US-Internierungslager: „Meine rechtlichen Möglichkeiten sind derzeit gleich null“, gibt Docke zu, „denn einen Rechtsstaat gibt es in Guantánamo nicht.“ Murat Kurnaz hat im Lager kein Recht auf einen Anwalt. Er weiß wohl nicht einmal, warum genau er dort sitzt. Der Generalverdacht der USA: Terrorismus.

„Ich kannte das Problem der Häftlinge ja aus der Presse und finde das unmöglich, wie die Amerikaner sich hier verhalten“, sagt Docke ohne jede äußere Regung. Routinesätze wie „Die nehmen sich heraus, jenseits der Völkerrechtsordnung ein Sonderrecht zu schaffen“, hat er schon dutzende Male in die Blöcke der Journalisten diktiert, obwohl er eigentlich nicht der Typ ist, der in die Öffentlichkeit drängt. Es geht ihm um Murat Kurnaz. Und natürlich ist er ehrlich empört, „dass man Leute einfach wegschließt, ohne Richter, ohne Zeitlimit. Reine Willkür, wie im Mittelalter.“

Mit seinem ordentlichen Schnurrbart und der kleinen runden Brille in seinem jungen Gesicht wirkt er wie ein Oberstudienrat oder ein freundlicher Verwaltungsbeamter. Jedenfalls kein Yuppie-Anwalt im Designeranzug. Er trägt rostbraune Jeans, ein schwarzes Hemd ohne Krawatte. Ein unauffälliger Typ.

Docke kann selbst nicht recht erklären, wie er manchmal an diese spektakulären Fälle kommt. Vor zehn Jahren zum Beispiel der Fall Bad Kleinen. Nach dem Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams auf dem mecklenburgischen Bahnhof vertrat er die Kioskverkäuferin, die aussagte, gesehen zu haben, wie zwei GSG-9-Männer Grams erschossen. Das Gericht glaubte ihr nicht. Docke schon: „Irgendwann, in vielen Jahren, wenn Gras über die Geschichte gewachsen ist, wird auch hier die Wahrheit herauskommen.“

Und bei Murat Kurnaz? Was, wenn er tatsächlich für die Taliban gekämpft hat oder für al-Qaida? Immerhin hatte er in den Monaten vor dem Abflug häufig die arabische Abu-Bakr-Moschee besucht, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, weil man den Verdacht hatte, dass sich dort islamistische Menschenfänger unter die Gläubigen mischen. Murat hatte angefangen, sich in traditionelle Gewänder zu kleiden, ließ sich einen Bart wachsen und lernte Arabisch. Mag ja sein, räumt Docke ein. „Doch so wie in Guantánamo behandelt man selbst Gefangene nicht, die schwere Verbrechen begangen haben.“

„Für das, was am 11. September passiert ist, habe ich auch nicht den Hauch einer klammheimlichen Sympathie“, betont er, als müsse er dem Verdacht des Antiamerikanismus vorbeugen. „Absolut furchtbar, unverzeihlich.“ Ein Mandant, der diese Anschläge rechtfertige, sei bei ihm an der falschen Adresse.

Dem Anwalt ist klar: „Meine rechtlichen Möglichkeiten sind derzeit gleich null“

Während seines Studiums hat Bernhard Docke acht Monate lang bei der UNO in New York gearbeitet. Er wäre am liebsten geblieben. Hier hat er gelernt, sich in der sprachlichen und kulturellen Fremde durchzusetzen. Hier leben auch seine amerikanischen Freunde. In seinem Bremer Büro ist der Anwalt von Bildern aus den USA umgeben. Hinter ihm eine Wüstencollage von David Hockney, vor ihm zwei riesige Feininger-Schwarzweißfotos von Manhattan.

„Ich war oft im World Trade Center. Ich kannte auch Leute, die dort gearbeitet haben, hatte also eine ganz konkrete, sinnliche Vorstellung von der Größe und der Gewalt, die da stattgefunden haben muss.“ An den 11. September 2001 kann er sich genau erinnern: Er sitzt in einer Mandantenbesprechung, als seine Sekretärein anruft. Docke schaltet den Fernseher im Büro ein und sieht zu, wie die Türme kollabieren. „Das klingt jetzt so komisch, aber da habe ich feuchte Augen bekommen.“

Murat Kurnaz, den Docke seit anderthalb Jahren zu verteidigen versucht, hat die Anschläge als „Willen Allahs“ bezeichnet, sagten Mitschüler später aus. Docke zuckt mit den Achseln. „Ja gut, da muss man vorsichtig sein. Er war damals 19 und hatte noch Eierschalen hinter den Ohren“, sagt er mit einem milden Lächeln. „Jugendlichen muss man Irrtümer erlauben.“ Er hat selbst zwei Söhne, elf und dreizehn. Er strahlt, als er von ihnen erzählt – später bei einem Kännchen Assam-Tee und Kuchen in einem Museumscafé. „Murat hatte ja gar keine Zeit, um sich als Kämpfer ausbilden zu lassen. Vielleicht haben ihn Kopfgeldjäger auf pakistanischer Seite gefasst und an die US-Soldaten verkauft.“ Er nennt ihn beim Vornamen, obwohl er ihn nur von Fotos kennt.

Normalerweise hat Bernhard Docke mit Mord und Totschlag zu tun. Was in Bremen halt so passiert. „Da werde ich oft von Menschen beauftragt, die unsägliche Dinge getan haben.“ Wenn man sie aber persönlich kennen lerne, stelle man häufig fest, dass es „ganz schwache, teilweise liebevoll wirkende Personen sind, die in extremen Lebenssituationen Dinge getan haben, die ihnen hinterher wahnsinnig Leid tun.“ Bei seinem prominentesten Mandanten ist das anders. Wie soll er sich in jemand reinversetzen, den er nie getroffen hat?

Docke wird wieder grundsätzlich: „Die Arbeit des Verteidigers besteht nie in der Verteidigung der Tat, sondern in der Gewährung eines fairen Verfahrens.“ Ein Lehrbuchsatz. Doch hier liegt Dockes Problem. Denn „fair“ gibt es für die Häftlinge auf Guantánamo nicht. Er kann Murat Kurnaz noch nicht einmal anrufen.