SPD demontiert sich selbst

Gerhard Schröder wittert Verschwörung und wütet gegen Intriganten, seine Widersacher kontern mit dem Hinweis, die SPD sei kein Kanzlerwahlverein

aus Bochum RALPH BOLLMANN
und JENS KÖNIG

Am Schluss hatte der Parteivorsitzende noch mal allen Grund, unwirsch dreinzuschauen. Reglos saß Gerhard Schröder an seinem Platz auf der Tribüne, als die Delegierten kurz vor zwei am gestrigen Nachmittag, nur eine Stunde vor dem Ende des dreitägigen Parteitags, die Führung in zwei Punkten einfach niederstimmten. Die Bürgerversicherung, von der Parteispitze nur bei der Gesundheit gewollt, soll demnach auch für die Rente gelten. Mehr noch: Auch Einkünfte aus Mieten oder Zinsen wollen die Delegierten dabei berücksichtigt sehen. In seinem Schlusswort wenig später fand Schröder dann die Fassung wieder. Über die „langfristigen Perspektiven, etwa bei der Bürgerversicherung“, werde die Partei „noch zu beraten haben“.

Noch immer nicht verdaut hat der Kanzler dagegen seine große Schlappe gleich am ersten Tag, als Generalsekretär Olaf Scholz mit 52,6 Prozent der Delegiertenstimmen nur ganz knapp im Amt bestätigt wurde. Besonders schwach soll der Zuspruch aus Schröders eigenem Landesverband Niedersachsen gewesen sein. Am Abend desselben Tages saß Schröder mit Gattin Doris, Fraktionschef Franz Müntefering, Finanzminister Hans Eichel und Familienministerin Renate Schmidt im Marriott-Hotel nahe der Tagungshalle beisammen. Als der niedersächsische SPD-Landeschef Wolfgang Jüttner die Runde passierte, konnte der Kanzler nicht mehr an sich halten. „Euch mach ich fertig“, soll er Jüttner nach Auskunft von Ohrenzeugen angefahren haben, „was ihr da abgeliefert habt, war eine Sauerei.“

Der Zorn des Kanzlers wäre wohl kaum so heftig ausgefallen, hätte er hinter dem Verhalten der Niedersachsen nicht weiter gehende Ambitionen des Exministerpräsidenten Sigmar Gabriel gewittert. Der schwergewichtige Politiker, der sich als Oppositionsführer im Hannoveraner Landtag offenkundig nicht ausgelastet fühlt, wurde in den vorigen Wochen schon als möglicher Scholz-Nachfolger gehandelt. Auf dem Parteitag war jedenfalls auffällig, dass Gabriel just jene Reden hielt, die eigentlich in die Kompetenz eines Generalsekretärs fallen. In einem fulminanten Beitrag forderte er eine Öffnung der Partei für andere Berufsgruppen als Akademiker und Beamte, geißelte den Verlauf des Parteitags als „irgendwie gespenstisch“ – und stellte die Referate, die der spröde Scholz in Bochum verlas, rhetorisch weit in den Schatten.

Auffallend war ferner, dass der Gabriel-Intimus und Vorsitzende des SPD-Bezirks Weser-Ems, Garrelt Duin, schon im Vorfeld des Parteitags besonders eifrig an Scholz’ Stuhl gesägt hatte. Tatsächlich sollen die Delegierten von Weser und Ems geschlossen gegen Scholz votiert haben, darüber hinaus auch Teile von Jüttners Bezirksverband Hannover und Gabriels Bezirksverband Braunschweig.

Am Abend vor der Wahl hatten sich die 61 niedersächsischen Delegierten getroffen, um sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. Dabei sollen ausgerechnet Gabriel und Jüttner – neben dem Bundestagsabgeordneten Hubertus Heil – als einzige Teilnehmer für Scholz plädiert haben. An der Frage, wie glaubwürdig Gabriels Einsatz für den Generalsekretär ist, schieden sich freilich schon bei jenem Treffen die Geister der Teilnehmer. Entsprechend barsch kommentierte ein Zwischenrufer Gabriels Einsatz für Scholz: „Rede kein Blech!“

Die mutmaßlichen Verschwörer Jüttner und Gabriel verbreiten indes die Version, mit ihrem Einsatz hätten sie Scholz gerettet. „Hätten Gabriel und ich nicht für Scholz geworben“, sagt Jüttner, „wäre er weit unter 50 Prozent gerutscht.“ Und Gabriel beteuert, er sei mit Scholz sogar befreundet und habe sich gerade erst mit ihm verabredet, um gemeinsam die Lage der SPD zu besprechen. Obendrein sei Scholz „einer der Klügsten“ in der Generation der 40-jährigen Sozialdemokraten, wo es doch so wenige Gute gebe. Da dürften sich diese wenigen, anders als ihre Vorgänger, nicht auch noch selbst bekämpfen. „Diese Form des Kannibalismus ist abstoßend.“

Jüttner ging gestern zum Gegenangriff über. Von einer Intrige könne keine Rede sein, hielt er Schröders Vorwürfen entgegen. „Wer das behauptet, der hat etwas zu verschleiern und soll sich an die eigene Nase fassen.“ Auch dass der Kanzler jetzt nicht mehr mit ihm spreche, findet Jüttner nicht so schlimm. „Das macht nichts, das kommt immer mal wieder vor.“ Die Partei müsse mehr sein als ein Kanzlerwahlverein, „sonst hat sie keine große Zukunft“.

Fast schöner als Schröders Wutausbruch waren die halbgaren Dementis, mit denen die Akteure die Zitate gestern bestätigten. „Äußerungen dieser Art entsprechen nicht dem Sprachgebrauch des Bundeskanzlers“, sagte Regierungssprecher Béla Anda. Ähnlich lau hatte Schröder selbst vor gut zwei Monaten seine Bemerkung in einer Kabinettssitzung abgestritten, er finde das Verhalten einiger Grüner „zum Kotzen“. Damals behauptete er: „So etwas würde ich nie sagen.“ Auch der Niedersachse Jüttner wand sich bei der Bitte um Bestätigung. „Es saßen Journalisten am Nachbartisch. Die haben es doch mitgehört.“