Erst die Moral verloren, dann das Spiel

Der WM-Dritte Türkei kann dem Guerilla-Fußball Lettlands nur ein 2:2 abtrotzen – und ist bei der EM Zuschauer

ISTANBUL taz ■ Die riesige Betonschüssel des Inönü-Stadions in Istanbul steht wie zufällig zwischen drei Ausfallstraßen am Ufer des Bosporus herum. Das Licht der Flutlichtmasten strahlt hoch in die Stadtteile Besiktas und Beyoglu, und es lässt das Stadionoval so fremd wie ein frisch vom Himmel gefallenes Raumschiff wirken. Am Mittwoch Abend schien es zudem, als entstiegen dem Bauch des Inönü tatsächlich ein paar Außerirdische. Sie waren groß und stark und trugen seltsame Namen: Imants Bleidelis, Dzintars Zirnis oder Maris Verpakovskis. Aber es waren keine Außerirdischen, die an diesem denkwürdigen Abend der vermeintlichen Fußballgroßmacht Türkei eine „historische Schande“ beigebracht hatten, wie die Tageszeitung Hürriyet anderntags schrieb. Sondern es waren die besten Fußballer Lettlands, die den WM-Dritten von der großen europäischen Bühne schubsten und nun selbst, zum aller, allerersten Mal, an einer Fußball-EM teilnehmen.

„Das ist eine historische Stunde für uns“, kommentierte der Bleichgesichtigste unter den baltischen Bleichgesichtern, ihr Trainer Aleksander Starkovs, das 2:2 von Istanbul, das nach dem 1:0-Heimspielsieg die Sensation perfekt machte. Starkovs galt zu seiner aktiven Zeit als bester Fußballer seines Landes. Eine faule, aber geniale Primadonna sei er gewesen, versichern lettische Journalisten. Vielleicht, nur so viel noch zu den bisherigen Fußballlegenden im Land der Basketballer und Eishockeyspieler, kam er auch deshalb nie über die zweite russische Liga hinaus.

In den Play-off-Spielen erwies sich Starkovs als gewiefter, abgezockter Taktiker: „Das Wichtigste war, wie wir spielen, nicht wie der Gegner spielt.“ „Guerilla-Fußball“ schrieb die lettische Zeitung Diena über den Stil der Letten: Gut organisiert, diszipliniert in der Defensive, als Kollektiv auftretend, sich als wahre Meister des Konterspiels verstehend, so präsentierte sich die rote Guerilla in Istanbul. Und noch etwas zeichnet die Nobodys vom Baltikum aus: eine glänzende Moral. Nach Toren von Ilhan Mansiz und Hakan Sükür lagen sie ab der 62. Minute mit 0:2 zurück – und schafften dennoch die Wende.

Vielleicht schweißte die Spieler ein Satz ihres Verbandspräsidenten Guntis Indriksons zusammen. Indriksons sagte vor einem Jahr: „Es ist schwer, in Lettland elf gute Spieler zusammenzubringen.“ In Istanbul waren es 18. Unter ihnen auch der blitzschnelle Maris Verpakovskis, den das Magazin Soccer Age nach seinem Tor im Hinspiel und dem Ausgleich in der 77. Minute im Inönü flugs zur „lebenden Legende“ erklärte. Entscheidend war Verpakovskis Abschluss eines Bilderbuchkonters aber nicht. Entscheidend war der Anschlusstreffer in der 65. Minute: Jurijs Laizans schoss den Ball flach in den Strafraum, wo er an Freund und Feind vorbei flog – und schließlich im türkischen Tor landete. Außer einem Lattenknaller Sükürs im Gegenzug hatten die schwachen Türken nichts mehr entgegenzusetzen. „Wenn du deine Moral verlierst, verlierst du den Krieg“, analysierte Senol Günes, der türkische Trainer, das gewohnt martialisch.

Schon vor der Barrage hatte Günes, ein Zündler und Stichler vor dem Herrn, ein mögliches Ausscheiden gegen die Letten als Schande bezeichnet. Jetzt, da es so gekommen und seine und die Überheblichkeit seiner Mannschaft der kühlen Präzision von Starkovs Taktik zum Opfer gefallen war, gab sich Günes hingegen kleinlaut: „Ich bin geschockt. Ich entschuldige mich beim türkischen Volk“, sagte er, nicht ohne auf die verletzt oder gesperrt fehlenden Bastürk, Rüstü, Fatih und Emre hinzuweisen. Viele hätten Günes am liebsten sofort in die Verbannung ins weit entfernte Anatolien geschickt. Aber von einem Rücktritt wollte dieser (noch) nichts wissen.

Nicht wenige Kritiker meinen, Günes fehle die Vision, den türkischen Halbmond langfristig in der Fußballweltspitze festzuzurren. „Vom Weltdritten auf Dritte-Welt-Niveau“, spottete Hürriyet über den tiefen Fall ihrer Fußballer. Möglich, dass Günes bis zum Ende seines Vertrags 2004 durchhält. Möglich aber auch, dass entweder Samet Aybaba von Trabzonspor oder Razit Cetiner, der U21-Trainer, schon frühzeitig die Aufbauarbeit für die WM-Qualifikation 2006 übernehmen.

Die Letten und ihr Trainer Alexander Starkovs befinden sich da auf einem ganz anderen Weg.

TOBIAS SCHÄCHTER