Sonne in den Speichen

„Ich komme mal einen Nachmittag vorbei“, sagte er der Gauck-MitarbeiterinDie Frau am anderen Ende stutzte: „Sie sollten sich schon eine Weile Zeit nehmen“

AUS LEIPZIG PHILIPP KÖSTER

1.500 Seiten Papier. Formulare, Berichte, Notizen, Protokolle. Seine Stasiakte. Wolfgang Lötzsch hat alles gelesen. Er weiß, wer ihn bespitzelt hat, warum er im Gefängnis saß und warum nichts geworden ist aus der Karriere als Radrennfahrer. Aber was nutzt das noch, nun, da alles vorbei ist? Die Kopien hat Lötzsch daheim in Chemnitz ins Regal gestellt. 1.500 Seiten Verrat, 1.500 Seiten Kampf, 1.500 Seiten Leben.

Ein durchtrainierter Mann von 52 Jahren steht auf dem Hof eines Hotels im Leipziger Stadtteil Paunsdorf, in der Hand einen seifigen Schwamm. Die Etappe der Sachsenrundfahrt ist zu Ende. Für die Fahrer ist der Arbeitstag vorbei, Wolfgang Lötzsch muss noch drei Räder putzen, dann sind die Materialwagen dran. Seit vier Jahren arbeitet er als Mechaniker beim Profiteam Gerolsteiner. Man wird nicht reich, es reicht zum Leben. „Ich bin zufrieden“, sagt er. Es ist nicht die Gegenwart, die schmerzt.

Mit sechs Jahren sitzt Wolfgang Lötzsch zum ersten Mal auf einem Rad. Es ist das Rad seiner Mutter, und die ersten Tritte sind unbeholfen. Doch die Liebe lässt ihn nicht wieder los. Wenn er die Wälder rund um Karl-Marx-Stadt durchfährt, die Füße in den Schlaufen, die Hände am Lenker, dann ist er glücklich. Die Sonne in den Speichen, so sagt man, sieht nur einer, der sein Rad selbst bewegt. Lötzsch bewegt es mit Kraft und Eleganz und Leidenschaft, er hat mehr Talent als jeder andere Fahrer seines Alters.

Schon bald wird er in den Sportklub Karl-Marx-Stadt aufgenommen und mit achtzehn Jahren ist er bester Nachwuchsfahrer des Landes. Mit ihm soll die DDR bei den Olympischen Spielen in München endlich Medaillen auf der Bahn holen.

Doch für München braucht Wolfgang Lötzsch zwei Funktionäre, die für ihn bürgen. Plötzlich fällt auf, dass Lötzsch noch immer nicht in die SED eingetreten ist. Da ist außerdem der Cousin Dieter Wiedemann, ein Friedensfahrer, der 1965 im Westen geblieben ist. Und hat nicht Vater Alfred über die Zukunft seines Sohnes trotzig gesagt: „Hier gibt es ja nicht einmal Bananen!“?

Einige Wochen später sitzt Wolfgang Lötzsch im Wagen seines Trainers Werner Marschner. Sie kommen von einem Test in Kreischa und auf der Rückfahrt hat Marschner lange geschwiegen. „Wir müssen noch zum Klubhaus“, sagt der Trainer schließlich knapp. Dort sitzen bereits die Herren von der Klubleitung und kommen rasch zur Sache. „Wolfgang, du wirst nicht nach München fahren“, teilt ihm Klubchef Heinz Gensel mit.

Es besteht Fluchtgefahr, glauben die Funktionäre. Und mehr noch, auch im Sportklub Karl-Marx-Stadt darf er nicht bleiben. „Der Aktive ist politisch völlig unklar, von einem positiven Standpunkt zu unserer Republik kann kein Rede sein“, notiert der stellvertretende Vorsitzende Kurt Voigtmann.

Lötzsch ist wie vom Donner gerührt. Benommen fährt er nach Hause, lässt sich aufs Bett fallen, fragt sich: „Warum ich?“ Heute weiß er um den Verdacht. „Man hat vermutet, ich wolle bei der Olympiavorbereitung in Belgien abhauen“, sagt Lötzsch. „Dabei war das absoluter Quatsch. Ich wollte doch unbedingt in München dabei sein.“ Wie sehr sie ihm misstraut haben, steht in der Akte. Nur sein Trainer setzt sich für ihn ein: „Für Lötzsch bedeutet der Radsport sein Leben“, schreibt er dem Klubchef. „Nehmen wir ihm den Radsport, nehmen wir ihm die Impulse seines Lebens. Also zerstören wir!“ Es ist nicht die Zeit für moralische Bedenken.

Wolfgang Lötzsch stürzt tief, aus den lichten Höhen der Sportförderung in die Kasematten des DDR-Sports. Nur in einer Betriebssportgemeinschaft darf er nun noch fahren, kein Materialwagen begleitet ihn mehr, Ersatzteile beschafft er sich nur unter Mühen. Doch was den Funktionären unmöglich erscheint, es passiert. Lötzsch, der chancenlose Betriebssportler, fährt ein ums andere Mal der Konkurrenz aus den Sportklubs auf ihren nagelneuen Rennmaschinen davon. Und schon bald wird der Fall Lötzsch zum Politikum.

Denn bei den Meisterschaften der Bahnfahrer 1974 in Leipzig fährt Lötzsch gegen den Favoriten Thomas Huschke. Wolfgang Schoppe, inzwischen Geschäftsführer des Sächsischen Radfahrer-Bundes, kann noch heute nicht von jenem Tag im Juli erzählen, ohne dass sich die Haare auf seinen Armen aufstellen. Während Huschke vor den Rennen von drei Assistenten umsorgt wird und mit einem Heißluftfön die Beine gewärmt bekommt, hockt nur zehn Meter entfernt der BSG-Fahrer Wolfgang Lötzsch. „Er saß da in aller Seelenruhe und futterte eine Butterbemme“, erzählt Schoppe.

So gut Huschke auch diesem Tag fährt, er kann Wolfgang Lötzsch nicht bezwingen. Bei der Siegerehrung kommt es zu Tumulten. Denn niemand begreift, warum der Meister nicht mit zur Weltmeisterschaft nach Montreal fahren darf. Erst rufen es nur wenige Zuschauer, dann dröhnt es schallend über die Tribüne: „Lötzsch nach Kanada, Lötzsch nach Kanada!“

Spätestens seit Leipzig ist der Fall Lötzsch kein sportlicher Fall mehr. Die Staatssicherheit eröffnet den operativen Vorgang „Speiche“, und nun ist Lötzsch nur noch selten allein. Wenn er trainiert, wartet bereits ein unauffälliger Lada an der Straßenecke. Schon bald kennt er die Nummernschilder der Wagen so genau wie deren Insassen. Lötzsch lacht darüber und fährt ihnen über hügelige Feldwege davon. Doch man engt ihn immer weiter ein. Immer weniger Rennen darf er fahren, der Frust wächst von Woche zu Woche.

Plötzlich bekommt er einen Brief von einem angeblichen Bewunderer aus dem Westen. Es gibt ein Treffen in Berlin – und das Angebot zur Fluchthilfe. Lötzsch ist vorsichtig. Er tut gut daran. Die Stasi hat das Theater organisiert, um ihn auszuhorchen. Doch Lötzsch ist schweigsam. Wenig später schlägt die Stasi trotzdem zu.

Nach einen Polterabend warten auf der Straße zwei Streifenwagen auf ihn. Ein Wort gibt das andere, schließlich ruft Lötzsch in die Nacht: „Wolf Biermann ist mein Mann.“ Minuten später sitzt er im Streifenwagen, am Tag darauf fahren sie ihn hinauf zum Kaßberg, dem gefürchteten Gefängnis der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt, und gleich in der ersten Vernehmung machen sie ihm klar, dass er nun die Wahl hat. Sie können ihn wegen Staatsverleumdung anklagen, das bedeutet ein Jahr Haft. Oder wegen Hetze, dann sitzt er sieben. „Es liegt an Ihnen, Herr Lötzsch!“ Er soll kooperieren.

Sie stecken ihn in eine Einzelzelle. Acht Quadratmeter, ein Oberlicht wirft fahles Licht. Kaum fällt die Tür hinter ihm ins Schloss, beginnt er mit dem Training. Er macht 3.000 Kniebeugen jeden Tag und 800 Klimmzüge dazu. Einmal in der Woche darf er auf den Ergometer. „Ich habe richtig Tempo gemacht, da ist das Ding auseinander geflogen.“ Nach zehn Monaten gibt die Staatssicherheit auf, sie wissen jetzt, so kriegen sie ihn nicht klein.

Er wird entlassen und ist doch kein freier Mann. Er ist Gefangener seiner Akte. Die Staatssicherheit spinnt ein feines Netz aus Informanten rund um Wolfgang Lötzsch. Arbeitskollegen, Radfahrer, auch sein Betreuer bei den Rennen schreibt Berichte. Dabei denkt Lötzsch nicht an Flucht, nur ans Radfahren. Das ist schwer genug, denn sie entziehen ihm die Lizenz. Er darf kein Rennen mehr fahren, nicht mal um den Häuserblock.

Erst fünf Jahre später lassen sie ihn endlich wieder auf die großen Strecken. Er meldet sich für „Rund um Berlin“. Ein Prestigerennen, am Start posieren die austrainierten DDR-Auswahlfahrer mit blitzenden Rennmaschinen aus dem Westen. Neben ihnen steht Wolfgang Lötzsch von Motor Ascona Karl-Marx-Stadt, „mit meiner alten Gurke bin ich angetreten“, geschraubt aus Ersatzteilen, die ihm befreundete Mechaniker zugesteckt haben.

Eigentlich will er nur bei der ersten Sprintankunft dabei sein, es winken ein paar Torten als Prämie. Doch schon bald fliegt Lötzsch mit vier Minuten Vorsprung um die Kurve, an der Straße jubeln tausende Zuschauer, die sehr wohl wissen, wer da vorneweg fährt. Die Ovationen tragen ihn und sein altes Fahrrad, aus vier werden fünf und im Ziel über acht Minuten auf die Spitzenfahrer. Ein Sieg mit Folgen, die Straßen-Trainer müssen zum Rapport beim allmächtigen Sportbund-Chef Manfred Ewald antreten. Der ist stinksauer: „Ihr fahrt nach Mexiko ins Trainingslager und esst Bananen. Der Lötzsch sitzt daheim und futtert Butterbrote.“

Dann kommt die Wende. Das erste Mal über die Grenze fährt Lötzsch mit einem Freund bei Hof, natürlich auf dem Rad. Und schon bald stellt er einen Antrag auf Akteneinsicht. Er ruft bei der Zweigstelle der Gauck-Behörde an. „Ich komme mal einen Nachmittag vorbei“, sagt er. Da stutzt die Frau am anderen Ende. „Sie sollten sich ein bisschen mehr Zeit nehmen“, findet sie. Lötzsch nimmt sich Zeit. Er studiert seine Akte, er liest von alten Freunden, die ihn ausgehorcht haben, von ängstlichen Mannschaftskameraden, von willfährigen Trainern. Manche Namen hat er noch nie gehört, zu denen, die er kennt, geht er hin und fragt sie. Kaum einer gibt eine Antwort.

Das Leben nach der Akte hat Lötzsch gut hinbekommen. Er hat beim Team Nürnberger als Mechaniker gearbeitet, nun schraubt er beim Team Gerolsteiner die Räder. Er fährt sogar zur Tour de France – im Mannschaftswagen. 6.600 Mark Haftentschädigung hat er bekommen, aber keine Antworten. „Warum es ausgerechnet mich getroffen hat, keine Ahnung“, sagt er, und wenig Verbitterung ist zu spüren. Eher noch, auch nach zwanzig Jahren, ein maßloses Erstaunen.

Es ist ein Schmerz, der ihn immer wieder einholt – auf der Tour, bei der Sachsenrundfahrt oder daheim in Chemnitz. Wenn er weg ist, weiß er, dass er wiederkommt, dass er sein Rad aus der Garage holen muss und in die Pedalen treten. Seine Lieblingsstrecke über Weißbach und Scharfenstein nach Schmalzgrube und zurück. Das Gesicht im Wind, die Sonne in den Speichen. Und für ein paar Stunden kein Gedanke mehr an 1.500 Seiten Papier.