Melodie? Rhythmus? Kein Bullshit!

Der New Yorker Minimalist Und Intermedia-Pionier Phill Niblock hat ein Stück speziell für das Hamburger Komponisten- und Performance-Kollektiv „Nelly Boyd“ geschrieben. Morgen hat es Europa-Premiere auf Kampnagel

Phill Niblock ist in gewissem Sinne ein Abtrünniger. Anders als seine klassisch ausgebildeten Mentoren La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass hatte der 76-Jährige – eine der Schlüsselfiguren der New Yorker Minimalism-Szene – nie großes Interesse an musikalischer Tradition. Es war die Fotografie, mit der er seine ersten kreativen Gehversuche unternommen hat, Mitte der 60er traf er die Choreographin und experimentelle Filmemacherin Elaine Summers und gründete mit ihr die „Experimental Media Foundation“ zur Förderung „intermedialer Produktionen“: „Film, Dias, Tanz, Musik, kombiniert als Performanceereignis“. Und es ist ein besonderes minimalistisches Verständnis dieses Konzepts „intermedialer Kunst“, das bis heute für Niblocks Arbeit grundlegend ist.

Weit entfernt von der repetitiven, psychedelisch eingefärbten Musik Rileys, Reichs oder Glass’ steht der Autodidakt dem radikalen, sich um die Dauer anordnenden Minimalismus La Monte Youngs näher. Der Großteil seiner Stücke besteht aus einem Ensemble von Drones: brummende, gehaltene Noten, die sich gleichsam unendlich erstrecken, sich nahezu unmerklich verändern und dabei eine Vielzahl sprühender Harmonien aussenden. Die verwendeten Instrumente sind ausschließlich analog und reich an Klangfarbe: elektrische Gitarren, Drehorgeln, nasale Stimmen. Niblock nimmt verschiedene Aspekte der Struktur eines Mediums heraus, kombiniert die Aufnahmen, verändert behutsam ihre Frequenzen und erlaubt ihnen, miteinander zu interagieren. Mikrotonale Intervalle und jene überraschenden akustischen Phänomene, die eintreten, wenn sie sich miteinander durchsetzen, sind seine Leidenschaft. In seiner Musik gibt es deshalb keinen Rhythmus, keine Melodie und kein typisches harmonisches Fortschreiten. „Es geht sehr stark um Nicht-Entwicklung, im musikalischen Sinne.“ Mitte der 70er brachte der Village Voice-Kritiker Tom Johnson diesen Prozess auf den Punkt: „Keine Melodie, keine Harmonie, kein Rhythmus. Kein Bullshit!“

Niblocks Musik kann deshalb unzugänglich, intellektuell und elitistisch erscheinen. In Wahrheit ist sie sehr körperlich-sensuell und allen zugänglich, die in das Schwingungsbad eintauchen wollen. Denn Phill Niblocks Stücke sind plastisch. Die Musik verändert sich drastisch und unerwartet, abhängig vom Raum, in dem sie gespielt wird. Dazu kommt der ausdrückliche Wunsch des Komponisten, die Leute dazu zu bringen, „herumzuwandern“ und die Plastizität des Klangmaterials selbst zu erfahren. Niblock besteht auch darauf, dass seine Musik extrem laut gespielt wird. Damit sie den Raum ausfüllt, den Zuhörer umschließt und ihre harmonischen Möglichkeiten maximiert. Weit davon entfernt, eine passive Rolle einzunehmen, wird der Zuhörer selbst aktiv, bahnt sich seinen Weg durch die extreme akustische Umgebung.

Eine besondere Freundschaft verbindet Niblock mit dem Hamburger Komponistenkollektiv und Ensemble „Nelly Boyd“. Speziell für die Hamburger Formation hat er im letzten Jahr das Stück „One Large Rose“ geschrieben. Und für dessen intermediale Europa-Erstaufführung auf Kampnagel morgen Abend kommt der 76-Jährige zu Besuch in die Hansestadt. Zu hören ist dabei neben dem 46-minütigen Werk das für drei Orchester komponierte Stück „3 Orchids“, das das Amsterdamer „Trio Scordatura“ in einer Kammerensemble-Version zur Aufführung bringt, und das Stück „Tow By Tom“, welches beide Ensembles zusammen spielen.

Wer vorher der unverarbeiteten Stimme Niblocks lauchen will: heute Abend bereits spricht Niblock mit Bob Gilmore in der Reihe „Positionen aktueller Musik“ im Künstlerhaus Frise.ROBERT MATTHIES

Vortrag und Gespräch in der Reihe „Positionen aktueller Musik“ mit Phill Niblock und Bob Gilmore: Do, 16. 4., 20 Uhr, Frise, Arnoldstraße 26 – 30 Konzert mit Phill Niblock und Nelly Boyd Kreis: Fr, 17. 4., Kampnagel (KMH), 21 Uhr, Jarrestraße 20, 12 € – 8 €