Das Leben lässt sich nicht aufhalten

Nüchterne Sprache und farbige, liebreizend verspielte Bilder: In der deutschen Erstaufführung „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ im Thalia in der Gaußstraße überzeugt vor allem die Schauspielerin Anna Blomeier

Manche Menschen gelten gemeinhin als „anders“, fordern dadurch ihre Umgebung heraus und halten ihr drastisch den Spiegel vor. In Die sexuellen Neurosen unserer Eltern des Schweizer Autors Lukas Bärfuss übernimmt die geistig gehandicapte Dora diese Mission. Die junge Regisseurin Jorinde Dröse hat das Stück des „Nachwuchsdramatikers des Jahres“ als deutsche Erstaufführung für die Bühne des Thalia in der Gaußstraße eingerichtet. Mit reichlich unbefangener Neugier, Liebe zur Farce und zum körperbetonten Spiel.

Ein Ereignis in diesem Stück ist Thalia-Neuzugang Anna Blomeier. Noch dämmert sie als Dora müde in ihrem Stuhl dahin, zugedröhnt von Pillen, die ihr körperliches Erwachen nicht aufhalten. Die Szenerie ist von Julia Scholz mit weißen Plastikwänden gepflastert. Unbarmherzig und unmenschlich, Dauerkrankentrakt und Familienexperimentierwiese zugleich. Eine auf Stöckelschuhen nervös herumstacksende Sandra Flubacher als Doras überfürsorgliche Mutter sehnt sich nach dem Menschen Dora hinter dem chemischen Vorhang.

Als die Kontaktaufnahme gelingt hat sie eine unberechenbare Tochter, die verräterisch zuckend alles nachplappert. Und eine, die keine Gutenachtgeschichten von Fröschen mehr hören, sondern ficken will. Nicht nur ihre Eltern, auch ihr Arzt gerät ins Schleudern, als er ihr hektisch versucht, die Liebe zu erklären. Obwohl verunstaltet als Tunte mit lila Socken und Stöckelschuhen schlägt sich Felix Knopp wacker.

Irritation auch bei Doras beschützerischem Chef, Markwart Müller-Elmau, als Gemüsehändler, der plötzlich für einen Zungenkuss herhalten muss. Vor allem aber geht Dora mit einem Parfumvertreter, Thomas Schmauser, gleich aufs Hotelzimmer. Rollt mit dem neuzeitlichen Nerd mit gelben Socken und etlichen Ticks auf klebrigen Matrazen herum. Hier funken zwei auf gleicher Welle. Der Unterschied zwischen „ficken“ und „Liebe machen“ ist Dora wurscht.

Dröse und ihr Autor erklären nichts. So lebt die Inszenierung vom gelungenen Kontrast zwischen nüchterner Sprache und farbigen, liebreizend verspielten Bildern, auch wenn hier und da die Tiefenschärfe fehlt. Die Liberalität der Eltern hat ein Ende, als Dora sie beim flotten Dreier im Wohnwagen erwischt. Da muss dringend Kontrolle wieder her. „Bin ich denn nicht gesund“, fragt sie, als ihr Kinderwunsch mit einer Totaloperation beantwortet wird. Die Erkenntnis der Mutter: „Wir sind bereits Abweichungen von der Norm“, und jahrelange Scham angesichts der Tochter hat nichts genutzt. Das Leben lässt sich nicht aufhalten.

Caroline Mansfeld

weitere Vorstellungen: 23., 28., 30.11., 11., 18., 19.12., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße