„Es gäbe mich nicht“

Radprofi Jan Ullrich über seine Familienferien und seine sportlichen Ziele früher und heute, über das Sportsystem der DDR sowie die verpasste Chance, wenigstens einmal die Nationalhymne zu hören

Die Welt zu entdecken, war ein starkes Motiv für mich als Sportler. Deshalb verreise ich bis heute auch so gerne

INTERVIEW HAGEN BOSSDORF

taz: Sie kommen gerade aus dem Urlaub, waren mit Andreas Klöden und ihren Familien auf den Seychellen. Ist Ihnen überhaupt noch bewusst, dass es eine Zeit gab, in der solche Reisen für Sie unmöglich waren?

Jan Ullrich: Sie waren sogar undenkbar für mich. Bis 1989 bin ich in den Ferien immer nur an die Ostsee gefahren, und zwar mit dem Fahrrad. Schon eine Reise mit meiner Familie auf den Darß war ein großes Abenteuer. Mehr kannte ich nicht. Erst später durch den Sport träumte ich davon, in die weite Welt zu verreisen. Wenn ältere Rennfahrer aus der Nationalmannschaft braungebrannt aus Trainingslagern aus Mexiko oder Kuba zurückkehrten, dann war für mich klar: da scheint die Sonne, da will ich hin. Die Welt zu entdecken, war ein starkes Motiv für mich als Sportler. Deshalb verreise ich bis heute auch so gerne.

Als die Mauer fiel, waren Sie in Berlin. Sie trainierten damals beim Sportclub Dynamo. Sind Sie in derselben Nacht noch mit dem Fahrrad in den Westen gefahren?

Nein, wir haben das im Internat in Hohenschönhausen im Fernsehen verfolgt und kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. Eigentlich wollte ich am Wochenende nach Hause nach Rostock fahren, aber was sollte ich da. Wir fuhren mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Berlin-Friedrichstraße, zeigten unsere Ausweise und passierten die Grenze, als wäre es das Normalste von der Welt. So kam ich zum ersten Mal in den Westen, ging gleich in die erste Bank und habe mir mein Begrüßungsgeld abgeholt und davon Turnschuhe gekauft.

Hatten Sie damals keine Angst, dass die politischen Veränderungen in der DDR auch das Sportsystem vernichten könnten, in dem Sie sich entwickelt hatten? Sie waren immerhin beim Sportklub der Polizei.

So weit dachte ich nicht. Ich war fasziniert von diesem spannenden Herbst 1989. In die Schule bin ich nie so gerne gegangen wie zu dieser Zeit. Wir hatten einen Geschichtslehrer, der den normalen Lehrplan ignorierte und mit uns darüber diskutierte, was im Land passiert. Erst später wurde der DDR-Sport von anderen auf Planwirtschaft und Doping reduziert. Das war Unfug. Auch in Berlin wurden die Kinder- und Jugendsportschulen zunächst abgeschafft. Glücklicherweise hatte ich sie gerade verlassen, um eine Berufsausbildung zu beginnen. Das war dann aber auch in wenigen Wochen erledigt und seitdem gab es für mich nur noch Radfahren.

Was haben Sie dem Sportsystem der DDR zu verdanken?

Alles. Es gäbe mich im heutigen Sportsystem als Radrennfahrer definitiv nicht. Zunächst einmal wäre ich vermutlich gar nicht entdeckt worden. Mein erster Trainer in Rostock war doch nur in den Schulen unterwegs, um talentierte Jungs zu finden. Das war kein Zufall, dass er mich fand. Außerdem hätte meine Mutter gar kein Geld gehabt, um mir ein Rennrad, Material und Bekleidung zu kaufen. Vielleicht wäre ich Leichtathlet geworden, denn für Turnschuhe hätte das Geld gerade noch gereicht.

Welche sportlichen Ziele hatten Sie damals?

Ganz klar, ich wollte Olympiasieger werden und die Friedensfahrt gewinnen. Das war die größte internationale Rad-Rundfahrt für Amateure, die durch Polen, die Tschechoslowakei und die DDR führte. Die Stars dieser Rundfahrt wie Olaf Ludwig und Uwe Ampler waren meine Idole. Als Kinder spielten wir ihre Rennen nach. Von einer Tour de France hatte ich da noch nichts gehört. Mit der Friedensfahrt konnten höchstens die Olympischen Spiele konkurrieren, die im DDR-Sport das Maß aller Dinge waren. Irgendwie hatte ich das immer noch im Hinterkopf, als ich in Sydney 2000 das olympische Rennen gewann. Da ging ein Kindheitstraum in Erfüllung.

Wenn die Olympischen Spiele so bedeutsam für Sie sind, warum haben Sie sich dann nach Ihrem schlechten Abschneiden in Athen so abfällig über die Spiele geäußert?

Das war dumm von mir. Ich meinte damit auch nicht die Olympischen Spiele an sich und schon gar nicht die Bedeutung Olympias für die Athleten in vielen anderen Sportarten. Ich war einfach sehr enttäuscht nach meinen Ergebnissen im Straßenrennen und im Zeitfahren und wollte ausdrücken, dass es für uns Radprofis eben auch andere wichtige Rennen gibt. Aber meine Athen-Auftritte waren leider nicht so glücklich.

Sie haben als Sportler nie die DDR-Hymne gehört nach einem Ihrer Siege.

Das ärgerte mich damals maßlos. Ich hatte eine einzige Chance, weil ich nur einmal in diesem mausgrauen Trikot der DDR-Nationalmannschaft gestartet bin. Das war bei der Junioren-Weltmeisterschaft im Sommer 1990 in Middlesborough/England. Ich war erst 16, durfte aber trotzdem im Punktefahren auf der Bahn starten. Ich lag auch vorn und musste nur noch einen einzigen. letzten Sprint gewinnen, um Weltmeister zu werden. 250 Meter trennten mich noch von dieser Hymne. Ich lag hervorragend im Rennen, direkt vor mir ging ein Mannschaftskollege in die letzte Kurve. Alles lief perfekt. Aber gerade als ich beschleunigen wollte, trug es ihn aus der Kurve und er drängte mich ab. Ich musste ausweichen, die anderen rasten vorbei, ich wurde Vierter. Am meisten hat mich damals gewurmt, dass ich die Siegerehrung mit der Hymne nicht erleben durfte. Im Winter bei der Rad-WM im Cross trug ich dann bereits das Trikot der Bundesrepublik Deutschland.

Was wären Sie heute, wenn es die DDR noch gäbe?

Entweder, der letzte Teil meiner Karriere hätte wohl gerade begonnen oder ich wäre wahrscheinlich wie üblich Trainer geworden. Wenn alles glatt gegangen wäre, hätte ich vorher die Friedensfahrt gewonnen. Alle anderen Wünsche bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen konnte ich mir allerdings auch ohne DDR erfüllen. Ich bin ganz froh, wie es gelaufen ist. Für das Land und für mich persönlich.

So aber sind Sie immer noch Radprofi. Haben Sie den neuen Streckenplan der Tour de France 2005 schon studiert?

Noch nicht genau. Ich freue mich natürlich, dass mit Karlsruhe und Pforzheim wieder deutsche Städte dabei sind. Weniger erfreut bin ich, dass in diesem Jahr ein Zeitfahren fehlt. Es gibt einige Etappen, die erst auf den zweiten Blick richtig anspruchsvoll erscheinen. Aber wie schwer ein Radrennen ist, bestimmen ohnehin die Rennfahrer.

Lance Armstrong hat sich noch nicht festgelegt, ob er überhaupt an den Start der Tour geht.

Das glaube ich ihm erst, wenn er wirklich am Start fehlt. Lance Armstrong beginnt in jedem Winter irgendwelche Psychospielchen, um sich selbst zu motivieren. Ein Sieg gegen ihn wäre vielleicht wertvoller, aber eigentlich ist mir egal, wer zur Tour kommt und wer nicht. Wenn ich gewinnen will, muss ich eben schneller sein als alle anderen. Da beschäftige ich mich nicht damit, ob einer fehlen könnte.

Werden Sie diesmal Ihr Gewicht halten?

Im Moment habe ich gar keine Probleme damit. Ende der Woche werde ich mit dem Training beginnen. Ende des Monats fahre ich mit Teamkollegen ins Trainingslager nach Südafrika. Es kann wieder losgehen.

HAGEN BOSSDORF war 1990–91 taz-Redakteur und ist heute Sport-Koordinator der ARD