Mehr Freiheit!

Im Osten sehen wir die Zukunft des Westens. Sie ist nicht rosig. Der PDS-Politiker Helmut Holter will nicht mehr Geld, sondern mehr Innovation

Es geht um Mecklenburg-Vorpommern. Geht es um Landstriche der Verödung, Vergreisung und Verblödung? Reden wir von den Pächtern der roten Laterne in allen möglichen Standortrankings? Reden wir gar vom Westkänguru, das mit dem nimmersatten Osten im Beutel nur noch matte Hopser macht?

Wenn ich vom Nordosten rede, dann von der unausweichlichen Zukunft des Westens und Südens der Bundesrepublik Deutschland. Im doppelten Sinne. Die Entwicklungen werden auch den Westen erreichen. Bevölkerungsrückgang und Alterung der Gesellschaft, Abwanderung von Arbeitsplätzen – das sind keine Alleinstellungsmerkmale Ost.

Zum anderen hängt die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Republik davon ab, ob es gelingt, hier auf die eigenen Füße zu kommen. Irgendwann ist Transferland abgebrannt. Wenn ich vom Osten rede, dann von der Chance Deutschlands, wieder Zukunft zu gewinnen.

Was der Osten nach 15 Jahren gut bezahlter Gängelei braucht, ist im Kern eine neue Kultur der Selbstständigkeit, ein neuer Anfang. Gut, dass dies unterdessen nicht nur vermeintliche Separatisten fordern, sondern der Osttümelei Unverdächtige. Zum Beispiel Helmut Schmidt, Klaus von Dohnanyi, Michael Rogowski.

Ein Gesprächskreis, initiiert von dem Ex-Banker Edgar Most und dem Medizinprofessor Horst Klinkmann, hat Mitte des Jahres Clement eine „Kurskorrektur des Aufbau Ost“ vorgeschlagen. Die Mitglieder des Gremiums bestreiten ausdrücklich einen Gegensatz zwischen einer Reformpolitik für ganz Deutschland und einer neuen Oststrategie. „Das eine bedingt das andere“, schreiben sie. Ihr Wort in Schröders Ohr.

Wenn ich von neuer Selbstständigkeit rede, dann in dreifacher Hinsicht. Erstens sollte der Osten zu einer Modellregion von Innovation werden. Zweitens bedarf gerade der Osten einer gesamtdeutschen Gründerwelle. Beides ist nur möglich, wenn es zu einem Bündnis eigenständiger Partner kommt.

Im Kern geht es um mehr Freiheit, die moderne ökonomische Entwicklung ermöglicht. Modern ist Entwicklung dann, wenn sie auf Innovation setzt – nicht auf Niedriglohn. Ostdeutschland ist heute in weiten Teilen und Branchen de facto ein Niedriglohngebiet. Ein Arbeitsplatzboom ist aber ausgeblieben.

Allen erfolgreichen Standorten in Westeuropa der vergangenen Jahre ist gemeinsam, dass Innovation immer Ergebnis politisch gestalteter und gesellschaftlich gewollter Arrangements und damit regionaler Allianzen war. Statt Gerangel um Subventionen brauchen Regionen strategische Allianzen für Arbeitsplätze, Ansiedlungen und Aufträge.

Eine Chance zum Beispiel für den Nordosten: die Ankopplung an den Megatrend Gesundheit. Warum sollte Mecklenburg-Vorpommern nicht zum Gesundheitsland werden? In den Industriestaaten wird in Gesundheit und Fitness mehr investiert als in Autos. Die Gesundheitswirtschaft hat die Informationstechnologie von Platz eins verdrängt. Die Umsätze der Wohlfühlindustrie sind in Deutschland in den letzten Jahren um ein Viertel gestiegen.

Gesundheit ist längst der größte Arbeitsmarkt in Mecklenburg-Vorpommern. Hier könnten, schließt man den Tourismus und Ernährung ein, an die 200.000 Menschen arbeiten – jeder zweite oder dritte Erwerbstätige im Land. Trendforscher erwarten jährliche Steigerungsraten von 15 bis 20 Prozent. Das Durchschnittsalter der Menschen hat sich in einem Jahrhundert fast verdoppelt. 2010 werden es über 80 Jahre sein. Ein 60-jähriger Mensch hat im Schnitt ein Vierteljahrhundert vor sich. Das Geldvermögen der Senioren wird in Deutschland auf 1.500 Milliarden Euro geschätzt. Was davon bleibt an der Küste?

Der Aufbau Ost ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage, sondern ein psychologisches Problem: Den Menschen muss reiner Wein eingeschenkt werden. Es bedarf einer Offenlegung, möglicherweise einer Offenbarung.

In Mecklenburg-Vorpommern fehlen mindestens 215.000 Stellen. In den nächsten 10 bis 15 Jahren haben mehr als 100.000 Menschen im Land kaum eine Chance, wieder einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Deshalb mein Plädoyer für einen anderen Weg. Ich schlage heute ein Modellvorhaben Mecklenburg-Vorpommern vor – einen auf 10 bis 15 Jahre ausgelegten gemeinwohlorientierten Beschäftigungssektor. Dazu ist nicht mehr Geld als bisher erforderlich, wenn verschiedene Arbeitsmarkt- und Sozialbudgets gebündelt werden. Also Gelder aus Schwerin, Berlin, Nürnberg und Brüssel.

In diesen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ließen sich mühelos die so genannten Arbeitsgelegenheiten (Ein-Euro-Jobs) integrieren, wenn sie entfristet würden. In diesem Sektor könnten zehntausende von Arbeitslosen – bei einem die Existenz sichernden Einkommen – das Unternehmensumfeld verbessern helfen, ohne den Wettbewerb zu verzerren. Die Menschen brauchen eine Perspektive und es muss gerecht zugehen. Dann wächst nicht die Wut, sondern der Mut. HELMUT HOLTER

HELMUT HOLTER (51), PDS, ist seit 1998 Arbeitsminister in Mecklenburg-Vorpommern