Eure Landschaft blüht

Im Osten Deutschlands wird weiter lamentiert, trotz bester Voraussetzungen: Während die DDR sofort in den Westen integriert wurde, mussten Polen, Tschechen oder Slowaken lange auf den EU-Beitritt warten. Anmerkungen eines ehemaligen Bruders

VON ADAM KRZEMIŃSKI

Fünfzehn Jahre sind bisweilen eine ganze Zeitrechnung. Das gilt für Ostdeutschland nach dem Mauerfall am 9. November 1989 und auch für Polen nach dem Sieg der Solidarność ein halbes Jahr davor. Dieser kurze historische Vorsprung sei hier nicht nur deshalb erwähnt, um damit an das Erstgeburtsrecht der Polen an der samtenen Revolution zu erinnern, sondern vor allem, weil diese deutsch-polnische Ungleichzeitigkeit des Jahres 1989 auch die unterschiedlichen Wege der beiden sozialistischen Bruderländer in den 15 Jahren nach dem Zerfall des Kommunismus verstehen hilft.

Die VR Polen und die DDR waren als Staaten keine echten Freunde, auch wenn zwischen nicht wenigen Polen und DDR-Deutschen doch echte Freundschaften entstanden. Im Unterschied zur DDR entwickelte die VRP eine eigene, originäre Geschichte von unten, die zuerst in die mächtige Oppositionsbewegung der Solidarność, dann den Kriegszustand 1981 und schließlich eine langwierige Basisarbeit am künftigen Machtwechsel im Lande mündete.

Die DDR dagegen galt als die bravste Baracke im ganzen Ostblock, bekannt durch Plastikautos und eher solide als schicke Damenunterwäsche. Dass es am 17. Juni 1953 zu einem Aufruhr gekommen war, geriet ungerechterweise in Vergessenheit. Wenn eines sicher war, dann die politische Passivität der DDR-Deutschen immer dann, wenn die anderen rebellierten: 1956, 1968, 1970, 1976, 1980/81 und so fort.

Die nachträgliche Ausrede für diese Reglosigkeit war bekannt, aber unglaubwürdig: Die Stasi sei allgegenwärtig, und die Bundesrepublik habe eine lähmende Sogwirkung ausgeübt, sodass die Besten in den Westen gegangen seien. Bei euch da drüben, in Warschau, Budapest oder Prag, hörte man oft, war alles viel einfacher, ihr habt kein Westpolen, kein Westungarn oder keine Westtschechoslowakei gehabt. Gorbatschow als der gute Zar in Moskau und Helmut Kohl als der deutsche Kaiser in Bonn überzeugten mehr als eine polnische levée en masse, die vielleicht einige Tage lang beeindrucken konnte, doch letztendlich das deutsche Gemüt durch ihre anarchische Urkraft nur erschreckte.

Der Hinweis auf die Autoritätsgläubigkeit der DDR-Gesellschaft schmälert keineswegs den Mut der oppositionellen Gruppen, die vor 1989 in der DDR entstanden. Auch wenn der Spruch von der Heldenstadt Leipzig vielleicht großmundig ist, waren die Montagsdemonstrationen doch die Vorschule einer Bürgergesellschaft, die in der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz ihren Ausdruck fand und sich – leider – nach Maueröffnung im Trubel der Vereinigung von oben verlief.

Nicht das Standhalten, sondern das Flüchten ist danach für die Ostdeutschen konstitutiv geworden. Die Massenflucht in den Westen – zuerst über Ungarn und die bundesrepublikanischen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau, später direkt durch die offene Mauer – und nicht der Widerstand gegen das poststalinistische Regime und der selbstständige Aufbau einer Zivilgesellschaft – mit eigenen Fehlern, aber auch mit eigenen Erfolgen. Und hierin liegt ein gravierender Unterschied zwischen der Ex-DDR und ihren Nachbarstaaten im Osten.

15 Jahre nach dem Mauerfall sind die DDR-Deutschen und ihre einstigen Brudervölker wieder Verbündete, diesmal in der Nato und nicht im Warschauer Pakt, und innere Nachbarn in der Europäischen Union (und nicht dem RGW). Doch eine echte Erfahrungsgemeinschaft mit Polen, Tschechen oder Ungarn will sich nicht herstellen lassen.

Während sich die Polen, Ungarn und Tschechen jahrelang die Nato- und EU-Mitgliedschaft erarbeiten mussten, mogelten sich die DDR-Deutschen mühelos hinein – nicht aufgrund realer Leistungen, sondern ihrer Blutsverwandtschaft. Sie kamen somit fünfzehn Jahre früher als ihre Brudervölker in den Genuss Brüsseler Ausgleichszahlungen, machten sich aber, als die anderen endlich an die Reihe kamen, dennoch große Sorgen, die EU-Osterweiterung könne auch auf ihre Kosten gehen.

Zugleich konnte man im Beitrittsjahr 2004 durchaus sagen, dass wir alle – ob aus Rostock oder Lublin, Pilsen oder Sopron – irgendwie ähnlich dumpf ticken. Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg mit den Erfolgen von NPD und DVU werden in der Bundesrepublik zwar mit denen im Saarland oder in Baden-Württemberg verglichen, doch könnte man ebenso gut einen Bezug zu den Wahlen in Polen oder Ungarn herstellen. Auch wenn die DVU nicht unbedingt eine deutsche Spielart der polnischen Selbstverteidigung und die NPD alles andere als eine Liga deutscher Familien ist. Dennoch scheint der Missmut 15 Jahre danach in allen ehemaligen Ostblockstaaten vergleichbar zu sein.

Und doch hinkt auch dieser Vergleich. Mit dem vollzogenen EU-Beitritt ändern sich in Polen sämtliche innenpolitischen Koordinaten. 2005 wird sowohl ein neuer Sejm als auch ein neuer Staatspräsident gewählt werden, hinzu kommen gravierende wirtschaftliche und soziale Reformen und wahrscheinlich ein Referendum nicht nur über die europäische, sondern auch über die veränderte polnische Verfassung. Das Land wird tatsächlich auf neue Gleise gestellt.

Nichts dergleichen in der Ex-DDR. Für die neuen Bundesländer bildet das Jahr 2004 keinen besonderen Einschnitt in den langen Linien des Umbruchs von 1989. Die Wahlerfolge der NPD und DVU sind zwar bedenklich, ebenso wie die Tatsache, dass sich laut Meinungsumfragen jeder zehnte Deutsche erneut eine deutsch-deutsche Zweitstaatlichkeit wünscht, aber die Wahlen 2006 werden die Republik bestimmt nicht umpflügen.

15 Jahre danach ist die Bundesrepublik kein leuchtendes Vorbild mehr für die Ostmitteleuropäer. Die Montagsdemonstrationen dieses Jahres, mit der PDS im Kern und Oskar Lafontaine als freiem Elektron auf einer Umlaufbahn und rechtsradikalen Wählern auf einer anderen darum herum, haben mit der Nikolaikirche von 1989 ebenso viel gemeinsam wie der Gesang einer Papierschwalbe mit dem einer Lerche. Nach dem „Wahnsinn“, dem deutschen Wort des Jahres 1989, ein Sinndefizit also?

Das könnte man zumindest glauben, wenn man die dramatischen Warnreden und gehässigen Kommentare in Deutschland vernimmt. Wenig sei zusammengewachsen, viel dagegen zusammengewuchert. Statt einer Zusammenkunft gleichberechtigter Teile derselben Nation habe das triumphalistische Recht des Stärkeren gesiegt, die arroganten Wessis hätten die armen blauäugigen Ossis über den Tisch gezogen …

Auch in Polen ist von der Euphorie des Jahres 1989 wenig geblieben, aber jeder Pole nimmt westlich der Oder und Neiße jene „blühenden Landschaften“ wahr, die die Deutschen so vermissen. Die anderthalb Billionen Euro, die in die Ex-DDR geflossen sind, sind für einen Polen durchaus erkennbar – in frisch asphaltierten Autobahnen, nagelneuen Brücken und edel restaurierten Stadtkernen. Wer sich für Wirtschaft interessiert, wird bald auf die „Leuchttürme“ neuester Technologien in Leipzig, Dresden, Jena, Eisenach oder Potsdam stoßen. Dass die neuen Bundesländer „auf der Kippe“ stehen, wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse warnte, ist für einen Polen kaum wahrnehmbar.

Gut, da sind die Rechtsradikalen in Sachsen oder Brandenburg, und auf der Karte der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nach wie vor eine virtuelle DDR-Grenze deutlich zu erkennen. Doch Bürger zweiter Klasse sind die Ex-DDR-Deutschen in der Bundesrepublik aus östlicher Perspektive sicherlich nicht. Schließlich war es ja die alte Bonner Republik, die die Kosten der Abwicklung tragen musste – wer hat also wen kolonisiert? Gut, auf dem Lande in Mecklenburg oder Sachsen gibt es keine besonderen Zukunftsperspektiven, auch in vielen Kleinstädten im Osten herrscht zunehmend gähnende Leere. Aber Stimmung ist nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Lage.

Der Solidarpakt hält nach wie vor, und seit dem EU-Beitritt Polens und Tschechiens sind deren Märkte für ostdeutsche Unternehmer noch leichter zugänglich. Es mag den Ostdeutschen wehtun, wenn sie sehen, dass Maschinenbau und Chemieindustrie zunehmend nach Ostmitteleuropa abwandern und selbst die starke Subventionierung von BMW in Leipzig oder VW in Dresden die Standortvorteile Polens, der Slowakei oder gar der Ukraine nicht ausgleichen kann. Doch Wolfgang Thierse hat wiederum Recht, wenn er auf neue Technologien in Ostdeutschland hinweist, auf Windgeneratoren in Magdeburg, wenn er von Ostdeutschland als einem Bildungs-, Kultur- und Innovationsgebiet träumt und sagt, dass die Bundesrepublik nicht mit niedrigen Löhnen, sondern mit höchster Qualität bestehen müsse.

Angesichts solcher kühnen Visionen ist man dann fassungslos, wenn man im deutschen Fernsehen zugleich einen triumphierenden Bericht über die erfolgreiche Abwehr des „Einmarschversuchs“ zweier polnischer Handwerker sieht, die in ihrer Rostlaube verdächtige Werkzeuge und eine deutsche Kontaktadresse mit sich führten. Als Untermalung fehlten nur noch die Fanfaren der „Walküre“. Die Wachsamkeit der Staatsorgane – wie man zur Zeit des realen Sozialismus sagte – schütze den eigenen Arbeitsmarkt, und nicht eine Interessengemeinschaft, sondern ein Interessengegensatz verbinde die Nachbarn, lautete die Fernsehbotschaft. Die deutsch-polnische Realität ist jedoch eine völlig andere. Wir mögen Knatsch haben miteinander in der Frage des Irakkriegs, der Erinnerungspolitik und der europäischen Verfassung. Aber weiterhin gilt, dass die Osterweiterung der EU eine gemeinsame Chance ist, weil der „große Sprung“ ganz Ostmitteleuropas auch der Ex-DDR einen erneuten Schub bringen wird.

Fotohinweis: ADAM KRZEMIŃSKI (59) ist Kommentator der Wochenzeitung Polityka in Warschau und stellvertretender Vorsitzender der polnisch-deutschen Gesellschaft FOTO: A. BASTIAN/CARO