Arbeiten wie im Osten, leben wie im Westen

Arbeitszeiten bis auf die Kommastelle sind ein Relikt der 70er-Jahre der Altbundesrepublik. Heute ist eine 40-Stunden-Woche für ganz Deutschland angemessen. Dann könnte man sich auch die Feiertagsdebatte schenken

Endlich wird die Einheit wahr! 15 Jahre nach dem Fall der Mauer diskutieren wir darüber, ob man nicht mehr aus der DDR übernehmen könnte als den „grünen Pfeil“ an einigen ausgewählten Kreuzungen der Altbundesrepublik.

In den fünf ostdeutschen Bundesländern ist die 40-Stunden-Woche real existierender Mindestalltag. Darüber wird auch nicht geklagt – es ist ohnehin schon weniger als die durchschnittliche DDR-Wochenarbeitszeit von 42 Stunden. Wenn der Ossi meckert, dann nur darüber, dass er für weniger Lohn mehr arbeitet als der Wessi. Ob aber nun 37,5 oder 38,5 oder 40 Stunden gearbeitet wird, ist prinzipiell erst mal nicht das Thema. Und eigentlich ist das auch egal.

Es ist doch absurd, dass sich die Altbundesrepublik auf Wochenarbeitszeiten mit Kommastellen in harten Arbeitskämpfen geeinigt hat, als ob Produktions- und Kreativprozesse sich wirklich um eine viertel oder halbe Stunde pro Woche scheren würden!? Und welcher Malocher in einer kleinen Bude ist heutzutage wirklich so teilnahmslos gegenüber dem Erfolg seiner Firma, dass er stechuhrpünktlich den Hammer, Meißel oder Pinsel fallen lässt?

Irgendwie ist das eine Geisterdebatte – eine Art ideologischer Überbau aus den 70er-Jahren. Das erkennt man ja schon daran, dass es DGB-Chef Sommer war, der gegen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wetterte, als dieser es wagte, die gesamtdeutsche 40-Stunden-Woche einzufordern. Wenn wir Ossis an jeder Kleinigkeit derart verzweifelt festgehalten hätten, dann wären wir keinen Schritt vorangekommen.

Was ist denn der größte anzunehmende Unfall – arbeitsmarktpolitisch gesehen –, wenn man 40 statt 38,5 Stunden pro Wochen arbeitete? Branchen könnten immer noch eigene Vereinbarungen über die Wochenarbeitszeiten treffen, wie es jetzt schon der Fall ist – sogar mit Kommastellen. Das ist wenig GAU-verdächtig. Urlaubs- und Feiertage wären raus aus der ohnehin unsäglichen Streichungsdebatte (die war der eigentliche arbeitsmarktpolitische GAU!) und verblieben der Familie und den Freunden. Die Ossis hätten nicht mehr das Gefühl, benachteiligt zu werden, weil sie mehr arbeiten müssen – obwohl sie dann immer noch weniger verdienten, aber das ist eine andere Geschichte und noch lange kein GAU, sondern inzwischen 15 Jahre gelebte Einheit.

Das alte Deutschland war ein reiches Land: man hatte sehr hohe Löhne und den meisten Urlaub weltweit. Deshalb wollten ja alle Ossis so gerne da rein. Die DDR ist doch vor allem ökonomisch gescheitert und viel weniger politisch, als es die heutige Geschichtsschreibung so gern hätte.

Wir Ossis haben das schon durch, liebe Wessis: Man muss sich von Gewöhntem trennen können. Davon geht die Welt nicht unter. Es wird auch kein neuer Klassenkampf ausgerufen. Natürlich wird durch eine 40-Stunden-Woche der Lohn pro Arbeitsstunde ein bisschen gesenkt. Insgesamt bleibt aber die bisherige Kaufkraft erhalten, die Löhne sind in dieser Hinsicht also stabil.

Dumm ist der Vorschlag nicht. Die Firmen, große und kleine, haben etwas davon und die Arbeitnehmer auch. Deshalb ging Siemens ja auch nicht nach Ungarn. Und deshalb stimmte die Gewerkschaft der 40-Stunden-Woche zu. So wird es auch bei Opel sein, so war es bei VW – worüber reden wir eigentlich noch?

Drücken wir uns vielleicht alle vor der Frage, ob die Arbeit, mit der wir unser Geld verdienen, eben nur genau das ist – ein Job!? Ist die Debatte über die 40-Stunden-Woche nur eine Symboldebatte, die verbergen soll, dass wir uns nicht mehr als Gemeinschaft fühlen, die an gemeinsamen Zielen arbeitet? Sitzt ihr Wessis gar am Ende in derselben Am-Wochenende-wird-gegrillt-Nische, in der wir Ossis saßen, weil uns die DDR gesellschaftspolitisch einfach nichts mehr gab? Dann schlage ich vor, dass wir uns mit diesem Thema ehrlich beschäftigen. In welcher Gesellschaft wollen wir leben und was müssen wir tun, um sie zu erreichen?

ANTJE HERMENAU, noch Mitglied des Bundestages und schon Fraktionsvorsitzende der sächsischen Grünen im Landtag, Mitglied im Parteirat, Sächsin – Wossi – Bundesbürgerin, lebenslustig, 40 Jahre alt