Regenbogenfische und Piranhas

Wer als Westdeutscher in den Osten zieht, der kann in eine wunderbare Welt eintauchen. Aber nur, solange er nicht ernsthaft streiten will

von JENS SCHNEIDER

Wenn es mal eine Zeit lang richtig schön und vertraulich geworden ist mit neuen Bekannten in Dresden oder Magdeburg oder Erfurt, dauert es oft nicht lange. Bis dieser anerkennende Blick einen trifft und das eigentümliche Kompliment sogar ausgesprochen wird: Für einen aus dem Westen, heißt es dann lobend, sei man doch gar nicht typisch, sondern nett. Oder man hört die anerkennende Feststellung, als Wessi gar nicht erkannt worden zu sein, und gelegentlich: „Eigentlich bist du gar kein richtiger Wessi. Sondern einer von uns.“

Das klingt, als wären einem Piranha aus unerfindlichen Gründen keine mörderisch scharfen Zähne gewachsen. Und als wäre er deshalb kein Piranha mehr. Sondern ein friedliebender Regenbogenfisch. Wer eine solche Lobpreisung zu hören bekommt, dem muss aus tausend Gründen schwindelig werden. Etwa weil er sich fragen sollte, ob er eigentlich seine Herkunft verleugnet. Und was alles passiert sein muss, damit Menschen aus München, Hamburg oder Lüneburg so oft als Raubtiere erwartet werden. Unbescheiden, gefräßig, brutal. Wenn doch die Menschen im Osten den Westen genauer kennten, sie wüssten bald, dass es dort fast gar keine Piranhas gibt.

Freilich muss einem das Risiko bewusst sein: Der Status des zahnlosen Piranhas hat auf den ersten Blick etwas Verlockendes. Er erweist sich als Eintrittskarte in eine durchaus angenehme Welt der Offenheit, in der bei Begegnungen nicht lange taxiert wird, aus welcher Einkommensklasse das Gegenüber kommt, ob es akademische Grade hat, vielleicht sogar berühmt ist – oder eben nicht. Es ist der Eintritt in die real existierende Besonderheit des Ostens. Aus dieser Welt berichten Ärzte oder Richter, Sekretärinnen oder Hebammen, die aus Bayern oder Hessen gekommen sind, verblüfft. Zu dieser Welt gehört eine freimütige Naivität, mit der man sich zu Leidenschaften bekennt, auch wenn die Paddeltour auf der Havel oder die Freude an Bibeltexten für einen Chefarzt an sich nicht en vogue ist. An Stelle des distanzierten Abtastens oder von Tratsch steht der ernsthafte Austausch über Interessen. Wer sich in dieser Welt bewegt, fühlt sich viel vertrauter, als es tatsächlich im Piranha-Land gelingen kann, wo fortwährend das anhaltende Versteckspiel in trutziger Rüstung betrieben wird. Freilich bringt diese Vertrautheit auch manch freimütige Ansichten ans Licht, die man doch besser durch einen Zivilisationssprung überwunden wünschte.

Schon die Schwärmerei über diese Verbindlichkeit und Offenheit dürfte auf einer echten Piranha-Party als peinlich naiv, gar widerlich aufgenommen werden, mindestens aber als uncoole Romantisierung des dunklen Ostens. Doch das ändert nichts daran, dieser wohltuende Verzicht auf die Rüstung gibt tatsächlich manchen Wessis im Osten das Gefühl, für eine Rückkehr gen Westen längst verdorben zu sein.

Doch sie können auch nicht ganz in die neue Welt eintauchen. Weil es einen Haken gibt. Die Offenherzigkeit und Harmonie funktioniert nur, solange es harmonisch bleibt. Sobald ein nicht mal böser oder aggressiver, aber doch ernster Dissens aufkommt, bröckelt die Idylle. Dann werden Fassaden eilig aufgebaut und sogar zu Festungsmauern. Manchmal zeigt sich das im Großen: So hatten die Menschen in Leipzig eine bewundernswerte, ungeschützt naive Begeisterung für ihre Olympia-Bewerbung entwickelt, wie sie Hamburg oder München nie zustande brächten. Aber als erste Zweifel am Auftritt von außerhalb kamen, wurde dies sofort als Verrat empfunden, als typische Attacke aus dem Piranha-Land.

Als richtiger Piranha entlarvt sich gar, wer sich – aus dem Westen kommend – plötzlich eine Meinung zum politischen Geschehen im Osten leistet. Da sind sich bei aller Feindschaft Bürgerrechtler und PDSler, Christdemokraten und Unpolitischen fast allesamt einig: Über die Geschichte der DDR kann sich im Grunde kein Wessi ein Urteil erlauben. Jeder Versuch wird abgewehrt, wie einst die SED sich jede „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ verbat. Mögliche Fehler der Treuhand? Mängel bei der Erziehung in den autoritären Schulen? Oder gar eine Einschätzung über den Rechtsextremismus in der ostdeutschen Provinz? Schon die banale Feststellung aus dem Mund eines Wessis, dass die DDR eine höchst widerwärtige und dazu noch doofe Angelegenheit war, löst zuweilen selbst bei Leuten Argwohn aus, die diesem System immer kritisch gegenüberstanden. Was dazu führt, dass ich in fast neun wunderschönen Jahren im Osten verblüffend selten kontrovers über solch grundsätzliche Fragen streiten konnte, allemal nicht, wenn es um die persönliche Geschichte von Ostlern geht.

Freilich lässt sich ein wunderbarer Ausweg finden: der Piranha-Test. Jeder noch so liebe Regenbogenfisch sollte seine Beißzähne gut pflegen, die ihn, wenn nötig, zum Piranha machen können. Wenn sich nun eine wirklich gute Freundschaft abzeichnet, aber gefährlich harmoniesüchtig erscheint, ist eine deftige Attacke zu fahren. Ein arger Spott über die politische Reife der Ossis, die Kontinuität der Schulerziehung seit Margot Honecker bis heute. Wenn es eine heitere Gegenattacke gibt, dann hat die offene Harmonie auch Bestand, wenn’s ernst wird. „Ihr denkt, ihr seid hier Besatzer – aber ihr seid nur Gäste, denkt dran!“, konterte eine Dresdnerin einmal. Wir lagen uns lachend in den Armen.

Jens Schneider (41) ist Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen