„Ich bin eben nicht nur Muslima“

taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 9): Junge Musliminnen leben mit einem ständigen Konflikt. Auf der einen Seite stehen Tradition und Religion, auf der anderen der Wunsch nach Freiheit. Ein Gespräch über Arbeit, Ehre und unehelichen Sex

MODERATION SABINE AM ORDE

taz: Der Integrationsbeauftragte hat gewarnt, das Dreigestirn Kinder, Küche, Kopftuch dürfte nicht die alleinige Perspektive für junge Musliminnen sein. Wie seht ihr eure Zukunft?

Funda Biter: Das ist doch ein Klischee. Heute gibt es sehr moderne Frauen mit Kopftuch, die auf eigenen Füßen stehen. Die studieren und wollen mehr als kochen und Kinder kriegen.

E.Z.: Wir suchen eine Perspektive für uns in dieser Gesellschaft. Mit Kopftuch muss man sich viel mehr um Anerkennung bemühen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich würde gerne Psychologie oder Politologie studieren, aber ich sehe mich später eher in einem orientalischen Unternehmen. Weil man mich da auch mit Kopftuch nehmen wird. Ich habe mein Kopftuch sehr früh getragen …

Aylin Turgul: Wie alt warst du?

E.: Ich war in der zweiten Klasse. Ich wollte unbedingt, meine Mutter fand das zu früh.

Aylin: Könntest du ohne Probleme mit deiner Familie dein Kopftuch ablegen?

E.: Ich glaube, sie würden das akzeptieren. Aber ich würde es nicht tun. Das wäre eine Niederlage.

Funda: Meist ist es anders. In Neukölln gibt es Mädchen im Alter von sechs bis zehn, die ein Kopftuch tragen müssen. Die das nicht wollen, die sich im Sommer beklagen, aber sagen: Ich darf es nicht abnehmen, mein Papa …

Gülhan Gögçe: Das Problem ist aber nicht nur das Kopftuch. Ich arbeite derzeit als Tutorin im interkulturellen Bereich. Mein Traum wäre ein zweisprachiger Kindergarten. Ich bin mir sicher, dass ich einen Beruf finden werde, aber ich weiß auch, dass nicht alles geht. Ich werde bestimmt dort arbeiten, wo es andere Türken gibt, oder wo es um Interkulturalität geht. In die anderen Bereiche komme ich schwer rein.

Hast du damit Erfahrungen?

Gülhan: Wir müssen immer viel besser sein, auch wenn wir kein Kopftuch tragen. Die von uns, die hier Abitur gemacht haben, die haben 200 Prozent geleistet, und in der Uni sind es 300 Prozent. Da kommen Sprüche, die sind unfassbar. Da hat mich ein Professor mitten in der Vorlesung gefragt, warum ich kein Kopftuch trage. Warum sollte ich? Die Leute wollen mit mir über den Islam reden, über Unterdrückung, Ausländerfeindlichkeit. Ich kann genauso gut über die Wahlen in Amerika oder Aids in Afrika diskutieren. Nur interessiert meine Meinung dazu niemanden.

E.: Ich bin ganz oft in einer Rechtfertigungsposition, aber ich will mich nicht rechtfertigen. Die Religion ist für mich sehr wichtig, sie ist mein Fundament. Aber ich bin eben nicht nur Muslima, sondern auch eine Frau, eine Bürgerin dieser Gesellschaft.

Gibt es bei euch zu Hause eine Rollenteilung zwischen Mann und Frau?

E.: In meiner Familie haben Frauen Freiräume. Ich habe einen älteren Bruder, aber der kontrolliert mich nicht. Auch mein Vater tut das nicht. Der hilft bei der Hausarbeit, serviert auch mal Tee, wenn Besuch da ist. Aber es gibt viele Mädchen, die in ihren Familien das Gegenteil erleben. Sie müssen sich aber deshalb nicht gleich von der Religion distanzieren. Sie sollen Fragen stellen, Zweifel äußern. Ich hatte zum Beispiel Probleme mit einigen Überlieferungen des Propheten. Später habe ich festgestellt, dass es umstrittene Überlieferungen sind. Da sind einige Männer mit den Forderungen des Propheten nicht klar gekommen. Ich habe als Frau mehr Rechte, als oft behauptet wird.

Funda: Meine Mutter ist aus einem Dorf hierher gekommen, mein Vater kommt aus der Hauptstadt, da sind schon zwei Welten zusammengekommen. Wir sind Aleviten, bei uns leben Männer und Frauen zusammen, die Frauen haben genauso viel zu sagen wie die Männer. Das ist auch bei meinen Eltern so.

In der Mehrheit ist es aber die klassische Rollenverteilung: Die Frau schmeißt den Haushalt und zieht die Kinder groß, der Vater geht arbeiten?

Funda: Ja, das ist so. Trotzdem haben mich meine Eltern immer unterstützt, damit ich eine gute Schulausbildung bekomme und meinen eigenen Weg gehe. Im nächsten Jahr will ich als Au-pair für ein Jahr nach England, auch das wird von meinen Eltern unterstützt. Viele ihrer Bekannten verstehen das nicht. Sie sagen: Was will Funda in England?

Wie stellst du dir das Leben mit einem Mann vor?

Gülhan: Ich bin verlobt und nach islamischer Art verheiratet, im Januar werden wir heiraten und zusammenziehen. Das war so, wie ich es mir gewünscht habe: Ich habe ihn kennen gelernt und bin jetzt drei Jahre mit ihm zusammen. Ich glaube, das geht meistens so. Ich kenne nicht viele Mädchen, die zwangsverheiratet wurden, auch wenn in der Öffentlichkeit ständig darüber gesprochen wird. Meine Schwester ist in die Türkei gefahren, hat sich verliebt und dort geheiratet. Das sind verschiedene Wege, aber wir sind beide glücklich.

Viele muslimische Mädchen dürfen sich nicht mit Jungs treffen. War das für euch ein Problem?

Gülhan: Es gibt kaum muslimische Mädchen, die das wirklich nicht tun. Die Eltern wissen auch, dass man das tut. Aber man redet nicht drüber. Die Eltern wollen, dass man sich auf traditionelle Weise kennen lernt, dass es also ein Mann ist, deren Eltern sie kennen. Aber die meisten Leute in meinem Freundeskreis haben sich unabhängig von den Eltern kennen gelernt und ihnen den Mann erst später vorgestellt. Man kann einen Mann nicht einfach so mit nach Hause bringen. Aber weil das für mich selbstverständlich war, habe ich es nie als Problem empfunden.

Haben deine Eltern erlaubt, dass du mit einem Mann ausgehst?

Gülhan: Ich habe es ihnen erst gesagt, als ich mir sicher war.

Aylin: Also als ihr heiraten wolltet.

Funda: Aber das Problem ist doch, dass viele Mädchen keine Chance haben, einen Jungen unter normalen Umständen kennen zu lernen. Viele treffen sich heimlich. Sie haben Angst, erwischt zu werden. Da machen die Familien einen großen Fehler. Mädchen müssen doch die Chance haben, einen Jungen vor der Hochzeit richtig kennen zu lernen. Sonst merkt man erst danach, dass man sich nicht versteht. Und vor 20 soll am besten gar nichts passieren.

Gülhan: Mit 20 glaubt dir doch sowieso keiner mehr, dass du niemanden triffst.

Wie ist das bei dir?

Funda: Als ich 14 war, haben meine Eltern sehr aufgepasst, was ich mache. Ich habe damals gar nicht an Beziehungen gedacht, ich fand mich noch zu jung dafür. Inzwischen hätten meine Eltern nichts mehr dagegen, wenn ich jemanden kennen lernen würde.

Gülhan: Viele Eltern haben Angst, dass du zu früh jemanden kennen lernst und deshalb Schule und Beruf vernachlässigst. Sie wollen, dass du eine gute Ausbildung machst, dass du auf eigenen Füßen stehen kannst. Ich habe auch erst mit 17 oder 18 darüber nachgedacht. Wenn das in der Familie nicht vorkommt, wird man auch spät reif.

Aylin: Bei mir stimmt das nicht. Ich hatte immer ältere Freundinnen. Das war früher Thema, aber gemacht habe ich es nicht. Meine Eltern haben immer gesagt, du bist noch zu jung, du hast noch so viel Zeit, einen Mann kennen zu lernen. Sie wollen auch nicht, dass ich heirate, bevor ich einen Beruf habe. Bei ihnen selbst war das anders. Sie kannten sich vor der Hochzeit gar nicht.

E.: Viele aus meinem Bekanntenkreis, die wie ich praktizierende Muslime sind, haben die Ehe vor Gott geschlossen, nichts standesamtliches oder so. Damit ist es vor Gott legitim.

Wie ist es bei dir?

E.: Meine Verwandten aus der Türkei wissen inzwischen, dass ich keine traditionelle Vermittlung will. Er sitzt im Wohnzimmer und ich soll gucken, ob er mir gefällt. Das ist nicht mein Ding. Ich werde ihn schon selbst kennen lernen.

Würde deine Familie – anders als bei dir – akzeptieren, wenn dein Bruder eine Freundin hätte?

E.: Meine Eltern wissen, dass wir das beide nicht machen würden. Im Islam ist vorehelicher Geschlechtsverkehr für beide Seiten verboten.

Aylin: Für die Männer wird das doch nicht ernst genommen. Die dürfen alles.

E.: Aber das ist Tradition, das hat mit dem Islam nichts zu tun.

Du würdest also sagen: Ich mache das nicht, aber ich verlange auch von Männern, dass sie das nicht tun?

E.: Ich kämpfe gegen die Tradition an, dass sich nur die Frau an dieses Gebot halten muss. Wenn es um Mädchen geht, ist Jungfräulichkeit sehr wichtig.

Funda: Dann heißt es schnell: Die ist doch bestimmt keine Jungfrau mehr. Mich interessiert nicht, was andere Mädchen machen. Ich selbst würde es nicht unbedingt tun, aber mich stört, wenn darüber geurteilt wird.

Ist Sex vor der Ehe wirklich für euch alle ein Tabu?

Aylin: Nein, ich finde das nicht schlimm. Ich kann mir vorstellen, dass man irgendwann das Verlangen danach hat. Ich habe es noch nicht gemacht, aber wenn man zwei oder drei Jahre eine Beziehung hat … Mir ist meine Jungfräulichkeit wichtig, aber es wird zu viel Wert darauf gelegt.

Könntet ihr euch vorstellen, einen Christen zu heiraten?

E.: Nein, das könnte ich nicht. Für mich wäre ganz wichtig, dass wir ein ähnliches Islamverständnis haben, das wir auf derselben Wellenlänge sind.

Gülhan: Ich könnte mir das auch schwer vorstellen, weil Religion und Tradition so eng verwoben sind. Man will ja einen Mann, der gut zu einem passt. Ich habe Freundinnen, die einen deutschen Freund haben. Aber das ist kompliziert.

Aylin: Ich kann mir das vorstellen. Wichtig ist vor allem, dass man einen guten Menschen kennen lernt, das ist schon schwierig genug. Wenn man jemanden liebt, zieht man das doch durch.

Funda: Viele Beziehungen scheitern auch daran, dass das Umfeld sie nicht akzeptiert. Dann kommen Sprüche wie: Deine Tochter hat einen deutschen Freund, das ist aber schlimm …

E.: Sie hat sich ehrlos verhalten …

Funda: Für viele Familien ist sehr wichtig, dass der Ruf gut ist.

Hättet ihr euch mehr Freiheit gewünscht?

Gülhan: Das kommt sehr auf das Thema an. Wenn ich im Rahmen der Universität eine Reise mache und da fahren auch Männer mit, dann setze ich mich darüber hinweg. Denn die Reise ist wichtig für meine Ausbildung. Trotzdem werden viele sagen: Wie kann sie das tun? Wenn ich aber auf eine Hochzeit gehe, wo alle Onkel und Tanten sind, da gebe ich mir Mühe, mich richtig zu benehmen. Meine Verwandten sollen keinen falschen Eindruck von mir bekommen. Ich würde also nicht zu viel quatschen oder unkonzentriert sein.

E.: Und was machen die Jungs? Mädchen dürfen auch nicht zu laut lachen. Aber wenn ich lachen muss, dann lache ich. Warum nicht? Solange solche Vorschriften nicht im Islam begründet sind und wenn ich das nicht mit meinem Verstand in Einklang bringen kann, dann will ich mich nicht daran halten.