BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Komm, wir spielen Mauerfall

Meine erste Wiedervereinigung erlebte ich als Zwölfjährige. Vor 28 Jahren. Ein Fall für die Geschichtsforschung

Aufhööööören!!! Ich kann es nicht mehr ertragen, dieses Vor-fünfzehn-Jahren-fiel-die-Mauer-Gesülze. Wer damals wem süßen Sekt einschenkt hat und jetzt reinen Wein – heiliger Strohsack, das ist doch ein Fliegenschiss der Geschichte.

Ich kann ein 28-jähriges deutsch-deutsches Jubiläum bieten, das außerdem ein Happy End hat. 1976 war das Jahr, in dem meine Eltern zum ersten Mal Westbesuch in ihrer bescheidenen Hütte empfingen. Es war Tante Ute, eine ehemalige Schulfreundin meiner Mutter. Sie kam mit ihrem Westauto, ihrem Mann Hermann und ihrem Sohn Axel aus Konstanz am Bodensee nach Narsdorf in Sachsen.

Weil das nicht alle Tage passierte, habe ich dieses Ereignis als Zwölfjährige in meinem Tagebuch festgehalten. Ich habe das braune Büchlein, das mit einem kleinen Schloss verschließbar ist, noch. Deshalb kann ich daraus zitieren, was ich notierenswert fand. Einschließlich der Grammatik- und Rechtschreibfehler. Schließlich soll mir keiner Geschichtsfälschung vorwerfen können.

„Tante Ute ist sowiso etwas geizig und so brachte sie nicht gerade viel mit“, schrieb ich. „Eine aufgebrochne Kaugummipackung, für jeden ein bunten Sommerpulli und eine Tafel Schokolade. Für Mutti und Papi hatte sie zwei Flaschen Wein, eine Pralinenschachtel und das Buch ‚Alle Wunder dieser Welt‘ (für Papi). Für Mutti Seife und Spray und Creme. Sonst einen Koffer voller Sachen (gebraucht) und Bananen (5–6). Trotzdem waren es einige schöne Tage.“

Zugegeben, die detaillierte Einfuhrliste der Westwaren liest sich wie ein Kinderbericht für die Stasi. Doch ich glaube, ich wollte nur aufzeigen, wie arm mir damals der reiche Westen vorkam. Unklar ist mir allerdings die Ungenauigkeit bei der Anzahl der Bananen.

Aber eins muss ich wirklich korrigieren. Das mit den schönen Tagen war relativ. Ich weiß noch genau, wie meine zwei Schwestern und ich uns wie die Bekloppten um die getragenen Klamotten und die Kaugummipackung geprügelt haben. Warum ich das nicht aufgeschrieben habe, darüber kann ich nur spekulieren. Weil ich bei dem Verteilkampf eine so unrühmliche Rolle spielte, dass ich mich dafür geschämt habe? Autozensur?

Auch die Mühen meiner Eltern, die Essensversorgung sicherzustellen, habe ich unter den Tisch fallen lassen. Wochen vor dem Besuch vom Bodensee haben sie den sozialistischen Himmel und die sozialistische Hölle in Sachsen in Bewegung gesetzt, um denen von drüben was zu bieten. In meinem Tagebuch liest sich das so: „Am Montag waren wir in Rochlitz Mittagessen. Es gab Rehrücken (schmeckte uns allen sehr gut). Am Sonntag haben wir gegrillt (auch sehr schön). Es gab Fleisch und Würstchen (schmeckte allen vorzüglich).“

Und nun kommt die historische Komponente dieses deutsch-deutschen Treffens: Meine Schwestern und ich übten mit dem Axel vom Bodensee Wiedervereinigung. „Axel, Antje, Annegreet und ich spielten immer Familie“, notierte ich ganz unbefangen vor 28 Jahren. „Wir legten uns andere Namen zu. Axel = Paulchen (Vater), Antje = Liebchen, Annegreet = Frechdachs, Bärbel (ich) = Paulinchen (Mutter), Fix und Foxi = Bären (Kinder). Wir hatten dabei immer viel Spaß.“

Das Buch „Alle Wunder dieser Welt“ steht noch immer bei meinen Eltern im Bücherschrank. Wir mussten uns immer extra die Hände waschen, wenn wir es anschauen wollten. Von den Weltwundern habe ich noch keins in natura gesehen. Dafür durfte ich vor fünfzehn Jahren ein Wunder erleben, das in dem tollen Westbuch nicht vorkommt: ein blaues Wunder. Mein blaues Wunder.

Und der Axel vom Bodensee, unser damaliges Familienoberhaupt? Den muss der Besuch in Sachsen so beeindruckt haben, dass er später Geschichte und Politikwissenschaft studiert hat. Er beschäftigt sich unter anderem mit Medien und Propaganda. Vielleicht sollte ich ihm zu Forschungszwecken eine Kopie meines Tagebuches zur Verfügung stellen. Schließlich waren wir ja mal eine Familie.

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