Ein flurbereinigter Mythos

Der Waldschadensbericht der Bundesregierung wirft seinen Schatten voraus: Selten gab’s so viele Bäume in Deutschland, selten waren sie so krank – und selten kümmerte uns das so wenig wie heute

VON CLEMENS NIEDENTHAL

„Waldsterben“ ist eines der wenigen deutschen Wörter, die im Englischen Karriere gemacht haben. Dabei ist das Phänomen so alt wie das Christentum: 732 fällte ein angelsächsischer Benediktinermönch bei Geismar die Donar-Eiche – ein kerngesunder Baum muss das gewesen sein, der keiner Startbahn und keinem Gewerbegebiet im Wege stand. Aber dem christlichen Gott.

Den Wald selbst haben die Deutschen in allen Epochen gesucht. Haben ihn gehegt und gepflegt und beim Domestizieren ihres Mythos das akademisierte Forstwesen erfunden.

Fläche und Dichte des deutschen Waldes sind in den letzten 600 Jahren nahezu konstant geblieben. In Zeiten, in denen etwa ganz Schottland im Auftrag der massenhaften Industrialisierung unwiederbringlich abgeholzt wurde, kannte man hierzulande zumindest schon die Praxis des Aufforstens – ein nachhaltiges Wirtschaften, fast wie aus der Agenda der umweltbewegten Achtzigerjahre. Der Waldanteil an der Gesamtfläche der Bundesrepublik beträgt stabile 28,5 Prozent. Auch eine vierte Startbahn in Frankfurt oder ein neuer Berliner Großflughafen würden da nur für marginale Verschiebungen sorgen, nachzumessen höchstens in Promille.

Der Wald ist also da, groß und stark. Und doch, es geht ihm schlecht. Schlechter noch als in einer Zeit, in der eine ganze Nation mit ernster Miene an seinem Krankenbett zusammengekommen war. Als „saurer Regen“ ein so fürchterliches Wort war, dass man rückblickend fast denken könnte, es hätte etwas mit al-Qaida zu tun. Oder mit George W. Bush. Wobei, so könnte man einwenden, Letzteres ja nicht ganz falsch ist. Es sind die Folgen ungehemmter Industrialisierung, an denen der Wald krankt. Aber wer will deshalb schon zurück in die Wälder?

Der Wald und die Moderne – kein ganz neues Gegensatzpaar. Schon der steyrische Volksdichter Peter Rosegger konfrontiert seinen „kleinen Waldbauernbub“ mit der modernen, diabolisch dampfenden Eisenbahn. Von Novalis bis Ernst Jünger verortete man ursprüngliche Mythen gerne unter paradiesischen Wipfeln. Der Wald als Garten Eden, mal mit, mal ohne Sündenfall. Der sprichwörtlich gestrige Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl wusste um 1860 gar: „Ein Volk muss absterben, wenn es nicht mehr zurückgreifen kann zu den Hintersassen in den Wäldern, um sich bei ihnen neue Kraft des natürlichen, rohen Volkstumes zu holen.“

Ganz in diesem Sinne pflanzten die Nationalsozialisten ihr Symbol in das deutsche Symbol. Überall im Reich entstanden so genannte Hakenkreuzwälder. Aus der Luft betrachtet sind sie mancherorts heute noch zu erkennen. Woran wiederum Elias Canetti anzuknüpfen scheint, wenn er in „Masse und Macht“ referiert: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem anderen Land ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland“, denn: „Die Deutschen suchen den Wald, in dem ihre Vorfahren gelebt haben, noch heute gerne auf und fühlen sich eins mit den Bäumen.“

2004 nun geht es dem „Holzmichel“ gut, dem Wald umso schlechter. Selbst im „Forsthaus Falkenau“, jener öffentlich-rechtlichen Vorabendserie, die einst so erfolgreich das Umweltbewusstsein in einen konservativen Wertekanon integriert hat, werden längst eher ökonomische denn ökologische Krisen vorgeführt: Heute gibt es drängendere Probleme als einen von Borkenkäfern bedrohten Wald, etwa das vom Konkurs bedrohte Sägewerk. Denn die romantische Liebe zu den Bäumen kann sich nicht mehr jeder leisten – in der Ära des Kapitalismus und seiner neuen Götter.