Spielraum für Claninteressen

Der Machtwechsel in Tiflis muss nicht automatisch Zuwachs an Stabilität und Demokratie bedeuten. Die Interessen der Opposition sind zu verschieden

von KLAUS-HELGE DONATH

Russlands Außenminister hat womöglich eine drohende weitere Eskalation in Georgien verhindert. Seit den frühen Morgenstunden war Igor Iwanow gestern zwischen der Residenz von Präsident Eduard Schewardnadse und der Opposition im seit dem Vortag besetzten Parlamentsgebäude hin- und hergeeilt, um im Konflikt zwischen den verfeindeten Parteien zu vermitteln. Schewardnase erklärte sich schließlich in einem Gespräch mit Iwanow und Spitzenvertretern der Opposition in seiner Residenz zum Rücktritt bereit.

Vorausgegangen waren am Wochenende dramatische Stunden. Mehrere hundert Demonstranten waren am Samstag in das georgische Parlament eingedrungen, hatten die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments gesprengt und Schewardnadse in die Flucht getrieben. Der erklärte anschließend den Ausnahmezustand, den er indes am nächsten Morgen als „noch nicht in Kraft“ bezeichnete. Nur der Zurückhaltung der Sicherheitskräfte war es zu verdanken, dass die Erstürmung des Parlaments unblutig verlief.

Entzündet hatte sich der Machtkampf an der nach Ansicht der Opposition gefälschten Parlamentswahl vom 2. November, aus der die Schewardnadse unterstützenden Parteien als Sieger hervorgegangen waren. Nach wochenlangen erbitterten Protesten gegen den Präsidenten forderten am Samstag parallel zur Parlamentsbesetzung rund 5.000 Demonstranten draußen den Rücktritt Schewardnadses und die Wiederholung der Parlamentswahl.

Ob die jetzt von der Opposition angekündigten Neuwahlen der Volksvertretung in gut sechs Wochen und die anschließend ebenso notwendigen Präsidentschaftswahlen ein weiter gehendes Chaos in Georgien abwenden können, bleibt abzuwarten.

Nach der Vertreibung aus dem Parlament und der Machtübernahme durch die Oppositionsführerin Nino Burdschanadse düfte auch das Schewardnadse-Lager in die politische Bedeutungslosigkeit sinken. Der Rückhalt des ehemaligen Staatschefs in den eigenen Reihen bröckelte bereits vor der Rücktrittsankündigung immer weiter. Zahlreiche Sicherheitskräfte liefen zu den Demonstranten über, auch Regierungsberater Lewan Alexadse gab im Fernsehsender Rustawi-2 seinen Wechsel zur Opposition bekannt. Ob es dem 75-jährigen Schewardnadse gelingt, wenigstens nach außen sein Gesicht zu wahren und seine Reputation auf der internationalen Bühne zu retten, ist mehr als fraglich.

Anders als Oppositionsführerin Burdschanadse hatte der Chef der „Nationalen Bewegung“, Michail Saakaschwili, jeden Kompromiss mit der Schewardnadse-Administration abgelehnt. Saakaschwili war der Zeremonienmeister dieses Aufstandes, seine „Nationale Bewegung“ landete nach offizieller Zählung bei den manipulierten Wahlen mit 18 Prozent auf Platz drei. Tatsächlich dürfte der charismatische Oppositionsführer noch mehr Zuspruch erhalten haben, worauf sich letztlich auch sein Anspruch stützt, die politische Führungsrolle in Georgien zu übernehmen.

Dass die Sicherheitskräfte bereits am Samstag den anrückenden Demonstranten keinen Widerstand geleistet haben, zeigte, welch geringen Rückhalt Eduard Schewardnadse in der georgischen Bevölkerung zuletzt genoss. Selbst dieser listige Fuchs entging dem Schicksal von Potentaten nicht, die irgendwann den Blick für reale Entwicklungen verlieren, sei es aus Hochmut oder weil sie von ihrem Hofstaat bewusst daran gehindert werden.

Verfrüht wäre es indes, daraus zu schließen, der Kaukasusstaat werde die Kraftprobe ohne Blutvergießen überstehen. Auf den Straßen Tiflis' standen sich am Samstagabend Demonstranten der Opposition und die Anhänger des Potentaten Aslan Abaschidse aus der autonomen Republik Adscharien gegenüber. Abaschidse hatte sich auf die Seite Schewardnadses geschlagen, denn die Machtübernahme durch die Opposition würde auch seine Herrschaft in der Schwarzmeerrepublik bedrohen.

Ein Machtwechsel in Tiflis muss indes nicht automatisch einen Zuwachs an Stabilität und Demokratie bedeuten. Die Opposition ist in sich gespalten und verfügt über keine Figur, die auf nationaler Ebene die wichtigsten Kräfte auf Dauer hinter sich vereinen könnte. Dem Amalgam aus Clan-Interessen, Wirtschaftslobbys und ethnischen Minderheiten kommt gerade eine schwache Führungsfigur zupass, die möglichst großen Spielraum für partikulare Interessen lässt.

Auch einer neuen Elite wird es nicht gelingen, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Georgiens auf die Schnelle zu lösen. Nicht selten werden anhaltende Misserfolge in der Wirtschafts-und Sozialpolitik durch das Heraufbeschwören neuer Konflikte – etwa mit ethnischen Minderheiten – verdrängt. Eine Gefahr, die gerade Georgien droht.

Michail Saakaschwili mag eine charismatische Persönlichkeit sein, der zudem als einer der ersten postsowjetischen Politiker Georgiens in den USA an der Columbia University ausgebildet worden ist. Er ist aber auch ein kompromissloser Nationalist, der angekündigt hat, die ethnischen Autonomien in dem Vielvölkerstaat aufzuheben und den Staatsaufbau zu zentralisieren.

Das hatte auch schon Georgiens erster Präsident Swiad Gamsachurdia versucht und damit 1992 einen Flächenbrand ausgelöst, der Georgien in einen Rumpfstaat verwandelte. Hunderttausende Georgier verließen damals fluchtartig die autonome Republik Abchasien und fristen seither ein armseliges Dasein am Rande der Gesellschaft. Gerade auf diese marginalisierten und radikalisierten Elemente stützt sich Michail Saakaschwili. Sie favorisieren eine Rückkehr in die Heimat – notfalls auch mit Waffengewalt.