Der Konzern und das kleine Haus

Investor DaimlerChrysler und der Bezirk Charlottenburg feierten gestern die neue Spreestadt am Salzufer. Dem schönen neuen Viertel im Weg stehen ein altes Haus, verängstigte Mieter und ein Puff

„Von Bauleitplanung können Sie nicht sprechen, das ist Bauleidplanung“

von HENNING KOBER

Nach altem Handwerkerbrauch wird beim Richtfest auch dem Allmächtigen gedankt, dass während des Baus kein Unglück geschah. Gestern wurde in der Englischen Straße in Charlottenburg Richtfest für Deutschlands größtes Smart-Center gefeiert. 50.000 Quadratmeter Nutzfläche auf dem Areal bewirbt ein Schild. Bauherr ist DaimlerChrysler Immobilien. Im Hochhausturm verteilen sich 20.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche. Neben dem Smart-Center soll Platz sein für Büros, unter anderem für die Daimler-eigene nationale Vertriebsorganisation.

Die „Spreestadt Charlottenburg“ auf dem weitläufigen Gelände zwischen Salzufer und Spree ist eins der größten Bauprojekte Berlins und soll der Stadt viele Arbeitsplätze und einen komplett neuen Stadtteil bescheren. Ganz neu? Nein, wie bei Asterix und Obelix gibt es ein kleines unbeugsames gallisches Dorf. Genau gesagt, handelt es sich nur um ein Haus. Erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, das letzte in dieser Gegend, das zwei Weltkriege überlebt hat. 29 Mietparteien wohnen darin. Familien mit Kindern, Studenten, Künstler aus verschiedenen Ländern. Mieten und Lage sind günstig. Im Erdgeschoss befindet sich eine Pension, die von Mädchen, die an der Straße des 17. Juni Sex gegen Geld verkaufen, bewohnt wird.

„Monatelang haben meine Mieter um ihr Leben gezittert“, erzählt Kerstin Breidenbach. Die junge energische Frau ist Sprecherin der Eigentümergemeinschaft des Altbaus. Sie erzählt von der Teileinsturzgefahr, gutachterlich festgestellt, von Rissen in den Wänden und der Angst der Kinder, die nachts nicht schlafen konnten.

Der Blick in die Englische Straße zeigt eine architektonische Skurrilität. Da steht ein 115 Jahre altes Haus, Fassade matt rot, sanft aber deutlich gezeichnet von der Zeit. Rechts und links und hinter dem Ziegelbau strecken sich Baukräne in den Himmel, ein Gebirge aus Beton umschließt das Haus. Da, wo das Smart-Center entsteht, überragen 13 Stockwerke das alte Gemäuer. Betritt man den engen Hinterhof, wächst ein weiteres Betonungetüm in den Himmel. Alle sind sie ohne Abstand an das bestehende Haus herangebaut.

Im Jahr 2000, als die Planungen konkreter wurden, begannen Verhandlungen zwischen der Eigentümergemeinschaft und DaimlerChrysler, die das alte Haus gerne kaufen und abreißen wollte, um ungestörter neu bauen zu können. Vielleicht wäre das sogar am besten gewesen. „Uns wäre eine Menge erspart geblieben“, so Breidenbach. Aber das Stadtplanungsamt signalisierte Interesse, das Gebäude erhalten zu wollen. „Wir sollten die Fahne für den Wohnungsbau hochhalten“, erzählt Breidenbach. Zudem bietet Daimler weniger als den Verkehrswert, und die Besitzer sollen Notargebühren, Baureifmachung und Abrisskosten selbst bezahlen. Die Verhandlungen werden abgebrochen, das Haus bleibt.

Daimler braucht nur die Bauzustimmung der Nachbarn. Wird wie geplant die Baugrube von drei Seiten ausgehoben, muss der Altbau mit Betonspritzen und Stahlträgern unterfahren und gesichert werden. Das Haus steht auf einer instabilen Packlage Kalk, darunter Sand. Zudem soll die Eigentümergemeinschaft in einer so genannten nachbarrechtlichen Vereinbarung auf jegliches Recht zum Wiederspruch gegen den Bebauungsplan und die Baugenehmigung verzichten. Unannehmbar für Breidenbach, „da wollte ein Großer seine Macht gegenüber einem Kleinen ausspielen“.

Inzwischen ist die Situation verfahren, weil hier Menschen aufeinander getroffen sind, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Hier Kerstin Breidenbach, Tochter einer seit Jahrzehnten in Charlottenburg lebenden Bäckerfamilie. Dort die Manager einer großen Immobilienfirma, im Hintergrund ein Automobilgigant. Dazwischen das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, der Stadtrat für Bauwesen, Klaus-Dieter Gröhler (CDU). „Von Bauleitplanung können Sie nicht sprechen, das ist Bauleidplanung“, so Breidenbach. Immer wieder bittet sie den Baustadtrat um Vermittlung. „Es ist nicht unsere Aufgabe, langwierige Verhandlungen zu begleiten“, sagt Gröhler heute.

Daimler lässt seine Muskeln spielen. Als ein Nachkriegsbau, der auf dem Gelände des neuen Smart-Centers stand, abgerissen wird, entsteht im Haus von Kerstin Breidenbach der erste Setzungsriss von Keller zum Dach. Daimler, konfrontiert mit der Bitte um Schadensbeseitigung, verweist auf die ausführende Baufirma. Die war zu dieser Zeit schon pleite. Im Juni 2002 schickt Daimler seine Anwälte los. Die beantragen bei Gericht eine einstweilige Anordnung. Den Eigentümern wird ein Ultimatum gestellt, sie stimmen der nachbarschaftsrechtlichen Vereinbarung zu, ansonsten müssten sie selbst die Verantwortung für eventuelle Schäden ohne Unterfahrung tragen.

Mit den Bauarbeiten beginnt auch Terror und Angst für die Mieter. Eine stützende Betonwand an der Rückseite des Hauses wird mit schwerem Gerät durchbohrt. Durchmesser ein Meter. Der bestehende Riss an der Hauswand öffnet sich. Ein zweiter an der gegenüberliegenden Wand kommt hinzu. Holzbalken bewegen sich, Putz bricht von der Decke. „Die Mieter hatten Todesangst“, erinnert sich Breidenbach. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung genehmigt Bauarbeiten von sechs Uhr morgens bis 22 Uhr. Die Zeit wird voll ausgenutzt. Trotzdem ziehen nur wenige Mieter aus. Stolz und wohl auch etwas Trotz verbindet sie mit ihrer streitbaren Vermieterin. Sogar die Luden tauschen ihre Mercedesse gegen bayrische Konkurrenzmodelle.

Während der Arbeiten nimmt der Altbau schweren Schaden. Teile der Bohrlöcher unter dem Haus, die später mit Beton ausgespritzt werden sollen, fallen zusammen. Der Kellerboden bricht zum Teil ein. Beton drückt von unten gegen die tragenden Wände. Überall bilden sich neue Risse. Das Haus muss mit Draht eingepackt werden. Stützende Stahlträger werden in die Wände gezogen. „Die Teileinsturzgefahr erkennen wir an, allerdings haben die von uns eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen eine Gefährdung für die Bewohner verhindert. Wir haben uns exakt an die Vorgaben der Statiker und Sachverständigen gehalten“, erklärt Mark Münzing, Sprecher von DaimlerChrysler Immobilien. Vielleicht wurden die Vorschriften etwas zu genau eingehalten. Während der Unterfahrung und Bohrarbeiten wurde das Haus nicht einmal geräumt. Ende Juli schrieb Daimler Kerstin Breidenbach noch: „Zu keiner Zeit, auch nicht während der Herstellung der Untergeschosse, bestand eine Gefahr für die Standfestigkeit des Gebäudes.“

Nachdem Breidenbach die Beschädigung in Augenschein nimmt, kommt ihr zum ersten Mal der Gedanke, „der alte Vogel fliegt nicht mehr“. Sie lässt ein Architekturbüro einen Neubau entwerfen. Dabei wird klar, dass der inzwischen gültige Bebauungsplan eine gleiche Geschosshöhe wie beim Nachbarn Daimler nicht zulässt. Auch soll keine komplette Unterbauung mit einer Tiefgarage erlaubt sein. Nebenan ist es das. Eine Änderung des Bebauungsplans wäre möglich, würde Daimler zustimmen. Grundsätzliche Bereitschaft dazu gibt es, allerdings nicht solange der Bezirk das Bauvorhaben nicht für genehmigungsfähig hält. Ein lähmendes Patt. „Frau Breidenbach ändert zu oft die Taktik“, sagt Baustadtrat Gröhler und fügt hinzu, dass die Neubebauung des Areals ohne den Sanierungsfall Englische Straße 29 sicher einfacher gewesen wäre. Den Änderungen im Bebauungsplan möchte er nicht zustimmen.

Das Richtfest ist Ausdruck des Zusammenhaltes und guten Miteinanders, so überliefert es die Tradition. Anwesend war gestern auch der Regierende Bürgermeister, der auf die Bitte der Nachbarn um Unterstützung nicht reagiert hatte. „Sogar mir haben sie eine Einladung geschickt“, wundert sich Kerstin Breidenbach. Sie ist lieber in Erholungsurlaub gefahren.