Die jüngste Tochter

Sevim kam aus dem Heimatdorf nach Berlin, um Murat Caycioglu zu heiraten. Eigentlich will sie Lehrerin werden

Sevim wusste sich klein zu machen, ein Mädchen, versteckt unter seinem Kopftuch

Sevim Caycioglu* ist eine gut erzogene Tochter. Sie ist die Jüngste von fünf Geschwistern. Ein bisschen mehr Freiheiten als ihre ältere Schwester hat sie auf dem Dorf in der Türkei. „Das ist so eins, wo die Hühner auf der Straße spazieren“, erzählt sie. „Kommt ein Auto, fliegen sie mit Schrei zur Seite.“ Sevim kann sich ausgezeichnet auf Deutsch verständigen, aber Wörter wie „gackern“ oder „herumstreunen“ sind ihr noch nicht geläufig.

Sevims größte Freiheit zu Hause: Sie durfte zur Schule. Nicht nur fünf Jahre wie ihre ältere Schwester. Und nicht nur acht, wie die besseren Schüler. Selbst danach hat ihre Lieblingslehrerin für sie noch einen Weg gefunden. Weil noch kein Mann um ihre Hand bat, hat der Vater eben eingewilligt. Sevim wusste sich klein zu machen, ein Mädchen zu bleiben, versteckt unter seinem Kopftuch. Sie hat die elfte Klasse abgeschlossen. Türkisches Abitur. Sevim will Lehrerin werden. Der Vater sagt nicht nein. Bei der Jüngsten wird selbst ein Patriarch nachsichtig. Alles war arrangiert, Sevim sollte zur Tante nach Ankara und dort aufs Lehrerinnenseminar.

Dann aber tauchte Murat Caycioglus* Mutter bei Sevims Vater auf. Die beiden führten ein Gespräch. Am Ende fragte der Vater die Tochter, ob sie Murat, den sie nicht kannte, heiraten möchte. „Er fragte mich“, das rechnet Sevim ihrem Vater hoch an. Sie antwortet: „Nein, eigentlich möchte ich studieren.“ Das könne sie doch in Deutschland, sagt Murats Mutter, denn ihr Sohn wohnt in Berlin. Im Wedding. Er arbeitet auf dem Flughafen in Tegel. Frachtarbeiter ist er. Sieben Jahre später, Sevim ist verheiratet, lebt ebenfalls im Wedding und hat inzwischen zwei Töchter, sagt sie. „Als ich damals ‚nein‘ sagte, hieß das wohl ‚ja‘ “.

Sevim ist keine Rebellin. Einem Mann gegenüber macht sie, was von einer Frau erwartet wird. „Das ist so bei uns.“ Nur in ihr drin brodelt es. Sie wird depressiv. „Manchmal bin ich sogar ungerecht zu meinen Kindern“, sagt sie. Dennoch, Sevim gibt nicht auf. Sie lernt Deutsch. Sevim gehört zu denen, die leicht lernen, die die deutsche Grammatik in all ihrer unberechenbaren Struktur akzeptieren. Artikel – das Nervensystem der Sprache, Fälle – das Skelett. Sevims Lieblingsfach war Biologie. Biologielehrerin wollte sie werden.

In Berlin versucht Sevim, ihr türkisches Abitur anerkannt zu bekommen. Man billigt ihr nur den „erweiterten Hauptschulabschluss“ zu. „So kann ich nicht Lehrerin werden“, sagt sie. Aber Sevim will ihren Traum nicht begraben. „Sie müssen das deutsche Abitur nachmachen“, sagt ihr Elisabeth Myslinska-Bobel, die Dozentin des Deutschkurses. „Beim Berlin-Kolleg vielleicht.“ Myslinska-Bobel unterstützt Sevim herauszufinden, ob sie eine Chance hat.

Vor kurzem hat Sevim sich für die Vorkurse in zwei Berliner Erwachsenenkollegs angemeldet. Sie weiß noch nicht, ob sie genommen wird. „Ich hatte solche Angst, als ich mich anmeldete“, sagt sie. „Das ist normal“, tröstet ihre Deutschdozentin. „Aber die Leute dort waren nett“, sagt sie. Jetzt versucht sie, auf eigene Faust, ihr Englisch wieder aufzufrischen, denn an einem der Kollegs gibt es keine Anfängerkurse. Sie will lernen. Unbedingt.

Ihre Nachbarn und Verwandten im Kiez verstehen Sevim nicht. Auch ihre Mutter rät ihr ab. „Ich kann nichts verlieren“, antwortet Sevim auf die Einwände. Und Myslinska-Bobel sagt: „Ein Unding, dass man diese Frauen so alleine lässt. Warum gibt es keine gemeinsame Anlaufstelle von türkischem Konsulat und deutschen Behörden, wo hierher verheiratete Frauen bei ihrer Suche nach beruflicher und sozialer Orientierung unterstützt werden?“ In einem Punkt allerdings hat Sevim doch großes Glück: Murat hindert sie nicht an ihren Plänen. „Wenn er ‚nein‘ sagen würde, könnte ich gar nichts machen“, meint sie. WALTRAUD SCHWAB

*Namen geändert