DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Der Reiz am L-Punkt

Warum laufen die Massen plötzlich Marathon? Na, um den eigenen „Peak“ zu erleben

Laufen bietet für jeden etwas. Für manche bedeutet Laufen am Abend nach Büroschluss einfach nur „frische Luft zum Atmen“. Andere suchen Geselligkeit und wieder andere finden durch das Laufen Balance fürs Leben. Für alle, die noch keinen Laufschritt hinter sich gebracht haben oder nur mit großem Widerwillen gelaufen sind – was natürlich außerhalb meines Vorstellungsvermögens liegt! –, mag das Gerede von der frischen Luft, der Balance und Ähnlichem völliger Quatsch sein, und doch könnte ich diese Liste um einen weiteren Punkt ergänzen. Für mich ist die Kunst beim Laufen, den „Punkt“ zu treffen. Damit meine ich die Form, das Fiebern auf das entscheidende Rennen.

Mit Leistungssport oder Olympia hat das nur wenig zu tun, nicht weil bei Olympia nur wenige Athleten den „Punkt“ getroffen haben, sondern weil viele tausend Läuferinnen und Läufer bei den unzähligen Marathons auf deutschen Straßen diesen „Peak“ erleben. Dieses Fiebern vor dem Start: Geht alles gut? Die Anspannung spüren, zulassen, damit umgehen – und dann los. All das ist bei allen gleich, egal ob Leistungsathlet oder nicht.

Und es ist nicht so, dass Menschen jenseits eines bestimmten Lebensalters beim Laufen nur verkappt nach der ewigen Jugend suchen. Nicht jeder 40-Jährige durchlebt eine Midlifecrisis und bewältigt sie mit Hilfe eines Dauerlaufes – und wenn, dann ist das nicht die schlechteste Methode, zumindest ist sie gesund. Nur weil jemand einmal wissen will, was er oder sie kann, bedeutet das nicht: Man würde vor etwas – Hobbypsychologen sagen: vor sich selbst – davonlaufen.

Nun scheint im Moment der Marathon das Läufermaß aller Dinge, und ganz egal ob Köln, Berlin oder Frankfurt, überall und alle haben sich darauf vorbereitet. Das heißt nicht nur ein bisschen durch den Wald gejoggt, nein, (fast) alle liefen über viele Wochen ganz regelmäßig ihre Runden. Das Spannendste dabei: (fast) alle liefen mit der Zielsetzung, den Punkt zu treffen, ihre beste Leistung zu bringen. Beim einen besteht er darin, im Ziel anzukommen. Beim anderen ist es eine bestimmte Zeit, die lockt, verlockt zum Laufen. Unter 5:00, unter 4:30 oder gar unter 4:00 Stunden – dafür werden viele Wochen Vorbereitung in Kauf genommen, die Tage neu geplant, die Wochen dem Training angepasst, das Leben (neu) gestaltet. Das finde ich spannend und kann es gut verstehen, schließlich habe ich 20 Jahre genauso gelebt.

So geht es vielen anderen Läuferinnen und Läufern. „Für mich hätte es schon vor drei Wochen losgehen können“, gestand mir einer kurz vor dem Start in Frankfurt. Seit einem halben Jahr lief die Vorbereitung. Das Resultat: Zehn Kilo abgenommen, Nervosität vor dem Start und das Gefühl, den „Peak“ verpasst zu haben. „Außer den Kilos erging mir das auch immer so und am Ende hat es doch gepasst“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Mann, lief es schlecht bei meinem Lauf in Berlin“, sagte mir ein anderer. „Am Abend vorher kam noch einer und hat mir so ein Gel in die Hand gedrückt.“ Bei Kilometer 35 sollte er es zu sich nehmen, „dann fliegst du ins Ziel“, hatte der Ernährungsexperte gesagt. Alles lief nach Plan, 3:30 Stunden wollte er knacken. Die ersten fünf Kilometer wie eine Uhr. Bei Kilometer zehn 30 Sekunden im Plus und bei Halbmarathon schon eine Minute. Das blieb so bis Kilometer 35. „Ich hatte die Gelpackung an meine Hose gebunden. Beim Trinkstopp habe ich gefummelt, gezogen und gerissen. Aber nichts, die Packung hing an meiner Hose wie eine Zecke.“ Dann endlich bekam er sie ab, aber die Verpackung war nass geworden. „Das Zeug war wie Leim“, erzählte er. Nach über zwei Minuten hatte er endlich einen kleinen Riss in der Packung. Aber der Blick zur Uhr ließ ihn erstarren. „Jetzt ist alles vorbei“, dachte er, „ich habe zu viel Zeit verloren.“

Es kam, wie es in solchen Situationen kommen musste. Der arme Kerl schleppte sich trotz optimaler Vorbereitung in Richtung Ziel und erst auf der Zielgerade realisierte er, wie knapp der Ausgang seines Rennes war – zu spät für einen Endspurt. Er lief 3:30:44. Es fehlten nur 44 Sekunden zum Glück. Aber selbst das kann motivieren: für einen neuen Peak.

Fragen zum Peak? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander SCHICKSAL