Oh holdes Frankreich!

Abends klingen die Glocken von Notre-Dame des Anges, eine steinerne Johanna von Arc reckt ihr Banner in die Höhe: Vor 50 Jahren ging Pondicherry als letzte französische Kolonie an Indien zurück. Spuren der Grande Nation haben überdauert

VON EMANUEL ALLOA

„Es geht abwärts“, seufzt die greise Marie-Madeleine. Die Sonne steht beinahe im Zenit und die feuchte Schwüle dringt in alle Poren der Häuser. Auf der Veranda der weiß getünchten Villa Magry thront die Neunzigjährige, von zwei Dienstmägden umsorgt, und wiederholt ihren Refrain: „Es geht abwärts! Alle verlassen mich: meine Geschwister sind tot, und ich habe immer weniger Personal.“ Glasig verirrt sich der Blick in die Ferne, um sich dann unvermittelt in den Besucher zu bohren: „Ich bin die letzte Überlebende! Jawohl, meine Herrschaften: Am 26. März 1911 wurde ich hier in Pondicherry geboren!“ Sie erzählt von der Jugend als Tochter Mélidor Magrys, des Inhabers des ruhmreichen Hotels Dartnel. In diesem Gebäude gingen einst Handelsreisende und Diplomaten ein und aus. „Abends veranstalteten wir große Bälle. Ich tanzte Polka und Walzer mit den Gästen, zuweilen gar Tango!“ Ein halb verschmitztes, halb beschämtes Lächeln schiebt sich über ihre Lippen. Die heute von Arthrose befallenen Beine zucken kaum merklich. „Stütz mich“, weist sie auf Tamilisch die Magd an, während sie schwerfällig in den Salon hinkt und vor der fotografischen Ahnengalerie im Lehnsessel niedersinkt. „Hier saß mein geliebter Bruder immer, wenn er seine Mozartplatten hörte. Auch er ist vor ein paar Jahren von mir gegangen. Nun ist das Haus völlig leer; die Kinder meines Bruders leben in Frankreich. Sie haben alles mitgenommen. Es geht abwärts.“ Marie-Madeleine, Pondicherrys berühmteste Altjungfer, verstummt.

Die Hausdiener öffnen die schwere Pforte aus Teakholz. Ein Ochsenkarren zieht an den Hausmauern vorbei, die, ganz wie in der Provence, mit Kalk geweißt sind. Im Schatten der Bougainvilleen döst ein Mann auf seiner Rikscha. Zwei in farbig schillernde Saris gehüllte Frauen schlendern, den schweren Obstkörbe auf den Köpfen, anmutig vorbei. Kein einziger Weißer weit und breit.

Am 1. November dieses Jahres feierte Pondicherry das 50-jährige Jubiläum der Rückgabe dieser letzten französischen Kolonie in Indien. Wenn die Stadt fraglos immer indischer wird – von den Jüngeren spricht kaum einer mehr die Sprache Molières –, so überdauern dennoch einige unverkennbare Spuren der Grande Nation: Allein schon an den Straßennamen sind die Geschichte und die Literatur Frankreichs abzulesen. Die von den Franzosen eingeführte Rassentrennung ist zwar politisch aufgehoben, lässt sich stadtplanerisch aber nicht ohne weiteres tilgen. Der zeitweise ausgetrocknete Kanal trennt die geschäftige, so genannte schwarze Stadt im Westen von den Prachtbauten der „weißen Stadt“ Richtung Ozean. Unverändert beherrschen das französische Konsulat und das Rathaus, das Hôtel de Ville, die Meeresfront Pondicherrys. Durch die Straßen patrouillieren indische Ordnungshüter mit rotem Gendarmenképi, den unverkennbaren Insignien des Erbes, an das sich die Alteingesessenen so gerne erinnern.

1664 gründete der Finanzminister Colbert die Ostindische Gesellschaft in der Überzeugung, die Reichtümer des Orients gehörten in die Versailler Schatztruhen. Zehn Jahre später ersteht die Gesellschaft vom Sultan von Bijapur an der Südostküste Indiens das Dorf Puduchcheri. Sogleich wird dort ein Handelskontor errichtet, zu dem bald andere, über den Subkontinent verstreute Stützpunkte hinzukommen werden. Deren Gouverneure sind jedoch viel mehr als schlichte Handelsvertreter der Metropole. Der berühmteste unter ihnen, Joseph-François Dupleix, wird zeitweise sogar über ganze Reiche Südindiens herrschen. Wohl wissend, dass Macht ebenso in Indien wie in Europa von Prestige abhängig ist, lässt Dupleix pharaonische Paraden aufführen. Die Chronik berichtet, dass das Ehepaar Dupleix von einem Elefantenspalier flankiert auf den Großmogul zuschreitet, begleitet von 45 Sänften mit französischen Offizieren und acht Sänften, dahinter 50 Kutschen und hundert reich verzierte Knappen. Der Großmogul wird ihm daraufhin den Titel eines Nababs verleihen, während ihn Ludwig XV. zum Marquis schlägt. Indessen entspricht dieser großspurige Lebensstil eines Vizekönigs nicht ganz dem, was sich die Aktionäre der Ostindischen Gesellschaft unter einem wirtschaftlichen Interessenvertreter vorstellen: 1754 wird Dupleix abgesetzt. Er nimmt einen Traum nach Frankreich, den eines großfranzösischen Reiches in Indien.

Von nun an häufen sich die politischen und militärischen Niederlagen gegen die aufsteigende Macht der Briten, welche Pondicherry 1761 dem Erdboden gleich machen. Als die Stadt 1816 an Paris zurückgegeben wird, ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, nicht mehr als ein Durchgangshafen nach Indochina. In Indochina wird nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich auch Pondicherrys Schicksal besiegelt. Nach der Niederlage von Dien Bien Phu 1954 sieht sich De Gaulle gezwungen, alle Kolonien in Asien – also auch die indischen Handelskontore – in die Unabhängigkeit zu entlassen.

Das zweite Aufblühen Pondicherrys ist einem Mann zu verdanken: Sri Aurobindo, jenem bengalischen Freiheitskämpfer, der Ende des 19. Jahrhunderts lange Haftjahre in britischen Gefängnissen verbüßte und in seiner Zelle zum Mystiker wurde. Als ihm die Flucht gelingt, rettet sich Aurobindo ins französische Hoheitsgebiet und gründet in Pondicherry ein Meditationszentrum, seinen Aschram.

Im Zentrum Pondicherrys, gegenüber den Kanonenrohren des Stadtmuseums, liegt der Französische Club. Veteranen des Indochinakriegs, ehemalige Söldner der Fremdenlegion oder schlicht unerschütterliche Frankophile spielen hier unter großen Ventilatoren zu einem Gläschen Pernod 21er-Rommé. Zu den verlässlichsten Gästen zählt Bibhas Jyoti Mutsuddi, 66 Jahre alt und ehemaliger Tennisstar. Noch immer tritt er seine Billardpartien in weißem Trikot und Turnschuhen an. „Ich verurteile nicht alles, was uns der Westen hinterlassen hat“, erklärt er, über den grünen Tisch gelehnt. „Natürlich besaßen wir in Indien eine der raffiniertesten Hochkulturen, als ihr noch in den Wäldern geschlafen habt. Aber nach so langer Zeit brauchte es den Kolonialismus, diesen modernen Prinzen, der das verschlafene, asiatische Dornröschen wieder wachrüttelt.“ Sagt’s und befördert mit einem wohl platzierten Stoß seine letzte Kugel ins Netz.

Draußen räumen die Nationalspieler des indischen Boule-Teams zusammen, um sich den Abendspaziergang der „Portugiesinnen“ ja nicht entgehen zu lassen. Da die tamilischen Frauen den Kolonialherren zu „schwarz“ waren, ließen die Gouverneure aus dem portugiesischen Goa Mischlinge importieren. In farbigen Gewändern und Blumenkronen, die einem Gauguin-Tableau entsprungen sein könnten, lehnen die nun über 60-jährigen Schwestern lasziv an den Säulen des Gandhi-Denkmals, dort, wo einst das französische Fort stand. Auch Pichaya Manet ist gekommen. Der Maler verrät unter vorgehaltener Hand, warum die Portugiesinnen noch immer derart viele Verehrer haben: „Jeder möchte die Legende überprüfen, ob die Frauen unter ihren wallenden Röcken tatsächlich nichts tragen.“

Fernab der geschäftigen Promenade hebt in den Mangroven das Zikadenkonzert an. In der Brise, die vom Golf von Coromandel her weht, klirren im Abendwind leise die Glocken von Notre-Dame des Anges. Eine steinerne Johanna von Arc reckt ihr Banner in die Höhe, während ihr gegenüber, hinter der altrosa-weiß getünchten Fassade, das Licht gegen Westen verschwindet. Bald wird die Statue der Jungfer in die Dunkelheit getaucht sein und Pondicherry allen anderen indischen Nächten gleichen. „Oh holdes Frankreich!“, pflegte der Magry-Bruder in seinem Schaukelstuhl zu wiederholen. Im Hintergrund der Klang einer Mozartsymphonie aus seinem Grammofon. Er, der die Stadt Pondicherry zeitlebens nie verlassen hatte.