Wir alle sind Profiteure

Sternstunden der Geschichtsklitterung und Dynamit in der Familien- und Sammlergeschichte: Peter Kessen zeigt in seiner Untersuchung, wie die Flick-Collection nach Berlin geleitet wurde und sich Friedrich Christian Flick nicht nur als Vermögens-, sondern auch als Geisteserbe Friedrich Flicks erweist

Flicks einzige Perspektive ist die materielle Wertsteigerung der Sammlung und der ideelle Zugewinn für seinen Namen

VON BRIGITTE WERNEBURG

Wir alle sind Profiteure, selbst wenn wir nur tanzen gehen: „Die immobilen Freiräume der jungen Berliner Szene basieren indirekt auf den Arisierungen während der Hitler-Herrschaft“, schreibt der Journalist Peter Kessen. „Die jüdischen Berliner wurden enteignet, die DDR überführte die Wohnungen in Volkseigentum, die Implosion des Realsozialismus sorgte dann für besetzbaren billigen Wohnraum.“ Kessens Text handelt „Von der Kunst des Erbens“. Doch damit meint er gar nicht so sehr die von uns leichterdings praktizierte Kunst, darüber hinwegzuschauen, auf welch sumpfigem Grund der Boom von Berlin-Mitte gedeiht. Sein Thema heißt „Die ‚Flick-Collection‘ und die Berliner Republik“. Es zeigt freilich die Qualität seiner Untersuchung, dass sie den Bogen seines Themas so weit spannt.

Profiteure wollen wir offenbar bleiben, auch und gerade in Zeiten der Restituierung. Handelnde Personen im Fall der Flick-Collection waren jedenfalls schon lange zuvor bereit, historische Sensibilitäten in Hinblick auf die Kunst des Erbens beiseite zu stellen. So kaufte die Stiftung „Umverteilen“ 2001 den jüdischen Erben eines rückübereigneten Gebäudes in der Veteranenstraße dieses für 900.000 D-Mark ab. Die Liegenschaft, ein Haus mit vorgelagertem Grundstück, überließ sie per Erbpacht dem linksalternativen Kulturverein „Acud“, der hier nun eine Kneipe, ein Café und einen Club sowie ein Kino, ein Theater und eine Galerie betreibt. Die Immobilie war ein Schnäppchen. Daran hatten zuvor allerdings einige Leute gedreht. Zum Beispiel der damalige Baustadtrat von Mitte, Thomas Flierl, heute Kultursenator.

Er erklärte der Geschäftsführerin des „Acud“, Jutta Braband, einer ehemaligen PDS-Parteikollegin, die ihr Bundestagsmandat niederlegt hatte, als ihre IM-Vergangenheit aufkam, potenzielle Investoren schrecke man am besten mit einem wertmindernden Bebauungsverbot für das Vordergrundstück ab. Wie es dann auch geschah. Die jüdischen Erben verkauften schließlich zu einem Preis, der um wenigstens eine Million Mark unter dem Marktwert lag. Jutta Braband sagte später, alle hätten konstruktiv zusammengearbeitet, „wie im Märchen oder der Nationalen Front“.

Eine ähnlich konstruktive Zusammenarbeit gegen die Interessen und Gefühle der Opfer der Nazis lässt sich im Fall der Sammlung Flick feststellen. Als Zentrum der nationalen Front, die für Friedrich Christian Flick das Märchen von der Ausstellung seiner Sammlung an prominentem Ort wahr machte, identifiziert Peter Kessen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dessen enger Vertrauter, der ehemalige stellvertretende BDI-Chef Eberhard von Koerber ist auch der Finanzberater von Flick und vermittelte 2001 den Kontakt zwischen Flick und Schröder. Es ging zunächst um die Idee, die Kunstsammlung im deutschen Expo-Pavillon in Hannover zu zeigen, als mögliche Nachnutzung des Gebäudes. Diese Idee wurde nicht weiterverfolgt. Ein halbes Jahr später freilich kam es zur Begegnung zwischen Berlins Regierendem Bürgermeister und dem Sammler, die, so die Legende, entscheidend für die Leihgabe nach Berlin gewesen sein soll.

Friedrich Christian Flick ist der Enkel und Erbe des Rüstungsmagnaten und verurteilten Kriegsverbrechers Friedrich Flick, der sich sein Leben lang weigerte, seine Schuld anzuerkennen. Einen seit 1964 vorliegenden Entschädigungsvertrag mit der Jewish Claims Conference für die Zwangsarbeiter der Dynamit Nobel A. G. hat der mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband ausgezeichnete Industrielle nie unterzeichnet. Zu einem Zeitpunkt, so Kessen, als sich die Schlagzeilen zum Thema Zwangsarbeit bei Dynamit Nobel häuften, hat Friedrich Christian Flick mit insiderverdächtigen Aktienspekulationen bei Dynamit Nobel/Feldmühle AG sein Erbe noch einmal um rund 200 Millionen Mark vermehrt. 1985 nämlich, beim Verkauf des Flick-Imperiums an die Deutsche Bank, erneuerte die Jewish Claims Conference ihre Forderungen. Als Flick seinen Aktiendeal abschloss, debattierte der Innenausschuss des Bundestags über das Thema. Antje Vollmer von den Grünen plädierte für die individuelle Entschädigung der Opfer. 2003 ist sie eine prominente Freundin und Unterstützerin von F. C. Flick und findet Forderungen nach einer Geste Flicks gegenüber den Zwangsarbeitern unangemessen. Verächtlich spricht die frühere Pastorin von „protestantischen Bußritualen“.

Dagegen gibt Kessen sehr bewusst der Sklavenarbeit, von der die Flicks profitierten, ein Gesicht: das der ungarischen Jüdin Eva Fahidi, die sich bei Dynamit Nobel fast zu Tode gearbeitet hat und deren Familie in Auschwitz ermordet wurde. Fast ein protestantisches Bußritual, in jedem Fall aber Therapie soll die Kaufsucht von Flick in Sachen Gegenwartskunst sein, folgt man den Selbstaussagen des Sammlers, der die Auseinandersetzung mit der belasteten Familiengeschichte unbewusst über die Kunst gesucht haben will. Anders als Thomas Ramge in seinem Buch über die Familie Flick, bemüht sich Kessen Flicks Liebe zur Kunst zu ergründen. Im Zentrum steht der 11. November 2003, als Gerhard Schröder und Christina Weiss den Sammler zum Kunsttalk ins Bundeskanzleramt luden. Zu einer „Sternstunde“ des Kunstgesprächs wie der Tagesspiegel verkündete. Tatsächlich war es eine Sternstunde der Geschichtsklitterung. Christina Weiss etwa sah mit der Sammlung Flick in der Hauptstadt nicht etwa die „Wunde, die in Berlin durch die Nazizeit gerissen wurde“, erneut aufbrechen. Im Gegenteil, sie sah sie durch Flick, „den Beuys-Schüler par excellence“, geheilt. Prompt konnte der sich erinnern, schon als Schüler Beuys verehrt zu haben, vor allem, als Letzterer von Johannes Rau von der Akademie in Düsseldorf verwiesen wurde. Leider war das aber erst 1972. Flick ging in den Fünfzigerjahren zur Schule. Der damals bekannte, depressionsgeplagte Beuys arbeitete da bei der Bauernfamilie van der Grinten auf dem Feld.

Die Liebe zur zeitgenössischen Kunst entdeckte Flick erst 1996. Dann aber heftig. In den folgenden Jahren kaufte er nicht weniger als 2.500 Kunstwerke. Die Begründungen für seine plötzliche Faszination sind, wie Kessen dokumentiert, ausgesucht hohl und steril: Künstler „haben etwas Göttliches“, sie sind „am Schöpfungsprozess näher dran oder sehen die Dinge zumindest aus einer anderen Perspektive“. Ihm selbst bleibt diese Fähigkeit trotz aller Beschäftigung mit der Kunst offensichtlich verschlossen. Seine Perspektive ist die materielle Wertsteigerung der Sammlung und der ideelle Zugewinn für seinen Namen. Das Porträt, das Peter Kessen von Friedrich Christian Flick zeichnet, zeigt ihn nicht nur als Vermögens-, sondern auch als Geisteserben Friedrich Flicks. An diesem Wochenende wird man dazu auf einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung und der Staatlichen Museen zu Berlin vielleicht mehr hören.

Peter Kessen: „Von der Kunst des Erbens. Die ‚Flick-Collection‘ und die Berliner Republik“. Mit einem Vorwort von Micha Brumlik. Philo Verlag, Berlin 2004, 171 Seiten, 12,90 €