BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Weihnachten mit einer West-Schlange

Ich war 17, als ich ihn kennen lernte. Irgendwo am Balaton. Er hieß Jürgen und machte Farbfotos von mir

Weihnachten kommt. Und damit verbunden die Frage: zu den Eltern nach Sachsen fahren oder in Berlin bleiben? Papas Erzählungen über die Schwierigkeiten der Auflösung seiner Landarztpraxis und seinen Klagen über das Gesundheitssystem lauschen oder ganz entspannt in Berlin mit Freunden und Rotwein das Braunwerden der Gans im Ofen beobachten?

Das erste Fest der Liebe nach dem Mauerfall stellte mich vor eine viel schwierigere Entscheidung. Kaum war ich einen Tag nach diesem historischen Ereignis nach Westberlin gezogen, hatte ich allen möglichen Freunden Karten mit meiner neuen Anschrift und Telefonnummer geschickt. Weil ich gern den Faden von alten Geschichten aufnehme, um ihn neu zu spinnen, schrieb ich auch Jürgen aus Bayern, meiner ersten großen Jugendliebe.

Ich war 17 oder 18 und im ersten Urlaub ohne Mama und Papa, als wir uns kennen lernten. Am Balaton in Ungarn, wo auch er ohne die Eltern Urlaub machte. Nur ihren Mercedes hatte er mitgenommen. Nach einer Woche fuhr ich – per Anhalter – zurück nach Sachsen und er – mit dem dicken Schlitten – nach Bayern. Kurze Zeit später hatte ich von der ersten Liebe meines Lebens die ersten Farbfotos meines Lebens. Der helle Wahnsinn.

Monatelang schrieben wir uns Briefe. Unsere vom antifaschistischen Schutzwall gestörte Beziehung inspirierte mich zu Liebesgedichten mit unglaublichen Reimen. „Könnt ich nicht eine Pille schlucken und einfach über die Mauer huppen?“ Doch die Sprengkraft meiner Poesie reichte nicht aus. Irgendwann schlief der Briefverkehr ein. Und dann, etwa drei Jahre später, stand der Bayer vor meiner Tür in Leipzig, wo ich in der Zwischenzeit studierte. Nach einem Anruf bei meinen Eltern hatte er meine Adresse in Erfahrung gebracht. Die sächsisch-bayerische Liebe ging in eine zweite Runde. Regelmäßig kam er nun nach Sachsen. Und wir verbrachten wieder einen Urlaub in Ungarn.

Dort fand die Beziehung dann ein abruptes Ende. Ich hatte den jungen Mann wohl etwas zu sehr unter Druck gesetzt mit meinen Heiratswünschen, um endlich in den Westen zu kommen.

Zudem hatte ihm seine Mutter die Hölle heiß gemacht. Für sie war ich eine von diesen Osttrullas, die versuchten, sich einen Westler zu angeln, um durch eine Heirat dem Osten zu entfliehen. Sie schrieb mir einen bitterbösen Brief, in dem sie mich aufforderte, gefälligst die Finger von ihrem Sohn zu lassen und mich an Rechtsanwalt Vogel zu wenden, wenn ich ausreisen wolle. Weil ich in den aber nicht verliebt war, schrieb ich ihm nicht.

Kaum war meine Postkarte aus Westberlin in Bayern angekommen, bekam ich einen Anruf von dort. Nicht von Jürgen, sondern von seiner Mutter! Sie flötete ins Telefon, dass ihr Sohn nicht mehr zu Hause, sondern in einer glücklichen Beziehung lebe, und dass sie mich gerne zu Weihnachten einladen würde, jetzt, wo die Mauer gefallen sei. Bei der Vorstellung, mit dieser falschen Schlange unterm Tannenbaum zu sitzen, wurde mir schlecht. Ich stellte mir vor, wie sie angesichts des Mauerfalls „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …“ anstimmen würde. Grauslich.

Sollte ich ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und sie an ihren Brief von damals erinnern? Nein. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihr. Kurz erwog ich, tatsächlich zu fahren. Nicht nur, um mir auf ihre Kosten den Wanst vollzuschlagen, sondern damit sie merken würde, dass ich eine Nette bin, die ihrem Sohn nie Böses wollte. Aber schnell verwarf ich diesen Gedanken. Ich ließ sie meinen Ärger über ihr gönnerhaftes Angebot nicht spüren, eine kleine Ostschnecke durchzufüttern, jetzt, wo ihr Sohn doch so glücklich mit einer anderen war. Artig bedankte ich mich für die Einladung und sagte, ich könne leider nicht kommen.

Traurig, aber wahr: Ich weiß nicht mehr, unter welchem Tannenbaum ich das Weihnachtsfest nach dem Mauerfall verbracht habe. Aber ich erinnere mich noch lebhaft an das gute Gefühl, auf einmal wählen zu können zwischen sächsischem Weihnachtsstollen und bayerischem Christkindl.

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHN ROTKÄPPCHEN Fragen zu West-Schlangen? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN