Nichts als die Wahrheit

„Tatort“ gesehen? Die Polizei auch. Und die ist nicht amüsiert: Er war ihr zu realistisch

Einer hat ständig „Scheiße“ gebrüllt und sich durch halb Duisburg geprügelt. Andere stellten sich nach gelösten Fällen ans Klavier und trällerten im Duett ein fröhlich Lied. Geballert wird öfters, auf eigene Faust ermittelt ständig, die Vorgesetzten sind wahlweise korrupt, kleingeistig oder karrieregeil. Ach je, die Welt der „Tatort“-Kommissare, seufzen die echten Ermittler in regelmäßigen Abständen, die hat ja so gar nichts mit der Realität gemein. Manchmal allerdings schon – und dann ist es auch wieder nicht recht. Bei der Münchner Polizei herrscht zur Zeit blankes Entsetzen wegen allzu großer Wahrheitsliebe beim Drehbuchschreiben. Was ist geschehen?

Am vergangenen Sonntag ermittelten die Münchner „Tatort“-Kriminaler Batic und Leitmayr in der Folge „Im Visier“ wegen eines Banküberfalls mit Geiselnahme. Drinnen sitzt ein pistolenfuchtelnder Jugendlicher, draußen die zynischen Bullen vom Sondereinsatzkommando (SEK) und die tapferen Kommissare, von denen sich einer schließlich zum Geiselaustausch zur Verfügung stellt. So weit, so unrealistisch. Doch dann wird sehr detailliert gezeigt, wie das SEK in die Schalterräume eindringt. So steuert ein Beamter eine Minikamera durch einen Lüftungsschacht, um die Lage ausspähen zu können. Andere knacken mit einem Spezialgerät ein Türschloss, das durch einen elektronischen Code gesichert wird. Dann erfährt der Zuschauer noch, wie die Polizei vorgeht, um einen Geiselnehmer vor Erteilen des Schießbefehls möglichst im Visier (!) mehrerer Scharfschützen zu haben.

So viel Genauigkeit hätte im Münchner Polizeipräsidium um ein Haar zur Gefährdung von Leib und Leben geführt: „Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich das gesehen habe“, gibt Polizeisprecher Peter Reichl entgeistert zu Protokoll. Für ihn hat der Krimi „polizeitaktische Details“ verraten, die niemals an die Öffentlichkeit hätten geraten dürfen. Das SEK muss sich jetzt, sagt Reichl, eine neue Taktik für Geiselnahmen überlegen. Das verwundert die Drehbuchautorin Sabine Bühring, die früher als Polizeireporterin genug Erfahrungen mit der Realität sammeln konnte und die Aufregung in der Münchner Abendzeitung knapp kommentiert: „Es gibt längst Bücher darüber, wie das SEK arbeitet.“ Der Bayerische Rundfunk verweist pikiert darauf, dass die Polizei zu einer Pressevorführung vor der Ausstrahlung eingeladen war. Dagegen verwehrt sich Polizeisprecher Reichl: „Dafür haben wir nicht immer Zeit.“ Was irgendwie auch beruhigend ist.

JÖRG SCHALLENBERG