„Der islamische Antijudaismus ist neu – und gefährlich“, sagt Herr Kermani

In islamischen Staaten verbürgerlichen die islamistischen Bewegungen – doch es gibt auch Gegentendenzen

taz: Herr Kermani, hat der islamistische Antisemitismus zugenommen?

Navid Kermani: Ich fürchte, ja. Dieses Phänomen war früher weitgehend auf fundamentalistische Zirkel beschränkt. Jetzt erfasst die Idee, dass Israel die US-Politik dominiert und beide zusammen versuchen, die Muslime zu zerstören, auch areligiöse und liberale Kreise. Demnach ist der Westen schuld – und zwar überall, wo Muslime unter Druck stehen oder verfolgt werden, sei es Kaschmir, Tschetschenien, in Afrika, Zentralasien oder Palästina. Dass Clinton in Bosnien Muslimen geholfen hat, dass Putin nicht Bush ist, wird einfach vergessen. Und der Westen – das sind, wenn die US-Außenpolitik in Jerusalem gemacht wird, die Juden. Das ist in dieser Breite neu. Und gefährlich.

Der malaysische Premier Mahathir hat kürzlich beim Kongress islamischer Staaten eine israelfeindliche Rede gehalten? Ist dies ein Beispiel für diese antisemitische Tendenz?

Den Eindruck kann man haben, wenn man einzelne Zitate sieht. Aber der Kontext der Rede ist anders: Mahathir, der kein Islamist ist, beklagt in der Rede schonungslos die Unterlegenheit und Rückständigkeit muslimischer Staaten. In diesem Kontext sagt er: Schaut euch an, wie erfolgreich die Juden sind. Sie schaffen es sogar, die US-Politik zu bestimmen …

ein paranoides Bild …

Ja, stimmt. Aber in einem anderen Kontext als etwa die Äußerungen Herr Hohmanns. Die Juden sind in dieser Rede nicht das Böse, eher ein Modell, von dem man lernen soll. Warum ist die islamische Lobby in den USA so viel weniger erfolgreich als die zionistische? Dennoch bleibt es ein Stereotyp. Es ist beunruhigend, dass es inzwischen sogar von Nationalisten wie Mahathir übernommen wird.

Warum nimmt das antijüdische Feindbild in der muslimischen Welt zu?

Ein unmittelbarer Auslöser ist natürlich Scharon, der jegliche Friedensbemühung zunichte gemacht hat und alles in den Schatten stellt, was zuvor an Menschenverachtung möglich war. Auch die USA waren lange nicht mehr so proisraelisch und antipalästinensisch. Wenn Scharon nun sagt, Israel ist das Judentum, dann fördert er damit genau dieses fatale, undifferenzierte Denken. Wenn jede Kritik an Israel Kritik am Judentum ist, verschärft dies den Konflikt ungemein. Im Grunde argumentiert Scharon genauso wie die Mullahs in Iran, die verkünden: Wir sind der Islam. Wenn das der Islam sein soll, braucht man sich über antiislamische Sentimente nicht zu wundern.

Aber Sie können den islamistischen Antisemitismus nicht auf den Nahost-Konflikt verkürzen. Wenn morgen der Nahost-Konflikt gelöst wäre, gäbe es weiterhin islamistischen Antijudaismus.

Natürlich wird der nicht über Nacht verschwinden, dazu hat er sich zu stark verselbstständigt. Allerdings gäbe es ihn ohne den Nahost-Konflikt in dieser Form gar nicht. Aber ich rechtfertige auch gar nichts. Ich beschreibe einen Mechanismus: Die eigene Rückständigkeit, die Unterdrückung, der Mangel an Demokratie – die Verantwortung für all das wird nach außen delegiert. Deshalb sagt man: Die Juden sind schuld. In Europa ist das ein klassisch antisemitischer Satz.

Nur in Europa?

Es gibt, anders als im Christentum, keine antisemitische Tradition im Islam. Das kann der Merkur noch so oft behaupten, es bleibt falsch. Das macht das Phänomen keineswegs ungefährlich. Aber es ist ein anderer Kontext, den man nicht einfach wegwischen kann.

Aber das Muster erinnert an den Judenhass der Nazis: „Deutschland liegt nach 1918 am Boden, daran sind die Juden schuld.“ Aus dem Gefühl der Unterlegenheit entspringt die Hybris.

Das ist richtig. Sich selbst als Opfer zu verstehen, die anderen als Täter, das ist eine Analogie. Trotzdem ist das antijüdische Ressentiment in Europa über Jahrhunderte gewachsen. In der islamischen Welt ist der Satz „Die Juden sind schuld“ vergleichsweise neu. Er ist ein Produkt der Moderne. Er hat also keinen historischen Resonanzaum. Aber, wie gesagt: Gerade solche künstlichen, importierten Haltungen können sich besonders rasch radikalisieren.

Der islamistische Terror ist ein Zerfallsprodukt des politischen Islam – diese These des Soziologen Gilles Keppel hatte vor zwei Jahren noch einen optimistischen Beiklang. Zerfallsprodukte sind ja selten stabil. Nun hat sich der Terror verstetigt, gleichzeitig greift, wie Sie sagen, der Antijudaismus um sich. War die These falsch?

Nein, gar nicht. Schauen Sie sich den Terror seit dem 11. September 2001 an. Den Anschlägen in Bali, Djerba und Istanbul sind bezeichenderweise viele Muslime zum Opfer gefallen. Sie sind für die einheimische Wirtschaft verheerend. Sie erzeugen nichts als Hass gegen die Urheber. Die Täter interessiert es offenkundig nicht, dass sie die Abneigung der Massen provozieren.

Wirklich? Mobilisieren diese Taten nicht doch die Affekte der Massen gegen den Westen?

Nein. Beim 11. September war dieser Effekt anvisiert, auch wenn er sich nicht in der gewünschten Weise einstellte. Bei den Anschlägen seitdem scheint mir das noch nicht einmal erwünscht. Was in Bali geschah, erinnert eher an Ägypten, wo die islamistischen Terroristen mit den Anschlägen auf Touristen die letzten Sympathien verloren haben. Es geht bei diesen Taten nicht darum, jemanden zu überzeugen, sondern nur darum, Angst zu verbreiten. Insofern sind diese Anschläge weniger politisch als nihilistisch. Sie sind kein Mittel zum Zweck. Ihr Sinn besteht in der Zerstörung. Das ist – nicht moralisch, aber in ihrem Wesen – der Unterschied zur RAF, zu der Hisbullah und der Hamas.

Und wie entwickelt sich der politische Islamismus?

Das Paradigma des Islamismus ist nicht Bin Laden, sondern Erdogan …

aber die Türkei ist als laizistischer Staat eine Ausnahme.

Ja, trotzdem ist Erdogan typisch. Der Hauptstrom der islamistischen Bewegung ist die Verbürgerlichung, inklusive der Trennung von Staat und Religion. Das zeigt die iranischen Reformbewegung, es zeigt sich in Ägypten, Indonesien, eigentlich allen großen muslimischen Ländern. Der Terror, die Radikalisierung einer Minderheit, ist ein Reflex auf diese Verbürgerlichung. Das heißt aber nicht, dass der Terror nicht noch Jahre andauern kann. Zumal die Nahostpolitik der USA wie eine Infusion für die Terroristen wirkt.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE