Der kleine Mann

Was ist in dem geheimnisvollen Koffer? Und hat er nun die Mafia am Hals?

„Brisantes Material, nicht wahr?“, fragte er nach einer ganzen Weile

Das Unfassbare, von dem mir eine gute und deshalb glaubwürdige Freundin berichtete, ereignete sich vor ein paar Monaten an einem dieser schwülen Augusttage. Christiane bewohnte damals eine kleine Mansarde direkt unter dem Dach – und obwohl sie alle Fenster weit aufgerissen hatte, regte sich kein Lufthauch, der die drückende Hitze ein wenig erträglicher hätte machen können. Christiane saß an ihrem Schreibtisch und büffelte für ihre bevorstehende Prüfung zur Beleuchtungsmeisterin. Ihre Füße steckten in einem Eimer mit Eiswasser.

„Es ist ganz merkwürdig,“ erzählte sie mir neulich rückblickend bei einem Glas Rotwein, „ich erinnere mich noch ganz deutlich an jedes kleinste Detail, als wäre es erst gestern gewesen. Meine Füße hatte ich in einen großen Eimer mit Eiswasser gesteckt, und ich trank Eistee mit – jetzt lass mich nicht lügen – Pfirsich- oder Zitronengeschmack. Doch, ganz sicher mit Zitronengeschmack!“ Mit diesen Worten brach sie in ein monströses, ja, fast schon unnatürliches Gelächter aus. Immer wieder schnappte sie unter krankhaften Zuckungen nach Luft, und nur mit Mühe gelang es mir, den Rest ihrer unglaublichen Erlebnisse aus den unzusammenhängenden Berichtsbrocken, die sie noch zustande brachte, zu rekonstruieren.

Es muss gegen drei Uhr am Nachmittag gewesen sein, als es plötzlich Sturm läutete. Christiane versuchte zunächst, das Läuten zu ignorieren. Da sie außer mir sowieso keine Freunde hat, wir aber zu dem Zeitpunkt zerstritten waren, erschien es ihr unwichtig, auf das immer stürmischer werdende Läuten zu reagieren. „Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe! Es hat über eine Stunde geklingelt, da bin ich einfach neugierig geworden und habe aufgedrückt. Das war ein Getrappel und Gegackse im Hausflur… Ich dachte, da kommt ein ganzer Kindergarten hochgerast, ich dachte sonst was – dabei war es nur der kleine Mann.“ An dieser Stelle mischte sich ein kleiner Ausdruck von Wehmut in Christianes lachverzerrtes Gesicht, der sich aber bald in einem sanften Lächeln auflöste.

„Er kam rein, völlig verhetzt. Er war nur so ungefähr 1,35 Meter groß und trug ein weißes Hemd, einen grauen Anzug, Schlips und Weste. Bei der Hitze! Und er schwitzte entsetzlich.“

Der kleine Mann war um die 40 Jahre alt und trug einen großen Aktenkoffer bei sich. Schweißüberströmt ließ er sich auf Christianes Sofa fallen und seufzte erleichtert: „Geschafft! Hier finden die mich nie!“ Christiane, die gute Seele, wusste nichts Praktischeres zu tun, als dem kleinen Mann ihren Eimer mit Eiswasser vor die Füße zu stellen. Der kleine Mann dankte es ihr mit einem Nicken und steckte seine Füße mitsamt den schwarzen Lackschuhen und den weißen Strümpfen hinein. „Ahhhhhh, was für eine Wohltat“, muss er wohl gesagt haben, wenn man Christiane Glauben schenken darf. Dann fragte er Christiane, ob er ihr vertrauen könne. Christiane bejahte. Der kleine Mann blickte ein paar Mal nervös um sich und öffnete seinen Aktenkoffer. Christiane riskierte einen Blick hinein – und erstarrte! Der ganze Koffer war voller Kalender von Hannover …

„Ich war wie erstarrt“, erzählte Christiane, „er hatte tatsächlich einen ganzen Aktenkoffer mit Hannoverkalendern bei sich.“

„Brisantes Material, nicht wahr?“, fragte der kleine Mann nach einer Weile. Christiane nickte und setzte sich im Schneidersitz vor den Koffer. Der kleine Mann senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern: „Das ist aber noch nicht alles, sehen Sie mal genauer hin.“ Der kleine Mann hatte offensichtlich schon eine unerklärliche Macht über Christiane erlangt. Es waren lauter Hochglanzkalender von Hannover, aber unterschiedlicher hätten sie nicht sein können. „Ich schwöre dir“, sagte Christiane später zu mir, „es glich nicht ein Kalender dem anderen!“ Da gab es große und kleine Kalender, teure und billige, und es waren sogar Postkartenkalender darunter, und alle hatten unterschiedliche Motive.

„Macht Sie das nicht stutzig?“, fragte der kleine Mann. Christiane nickte abermals. Der kleine Mann atmete auf und lehnte sich befreit im Sofa zurück. Versonnen planschte er mit seinen Schuhen im Eiswasser. „Wissen Sie“, sagte er dann, „man trifft nicht oft auf Menschen, die die Dinge genauso durchschauen, wie man selbst.“ Christiane nickte, denn sie konnte ein Lied davon singen.

Plötzlich beugte sich der kleine Mann ruckartig vor und raunte: „Ich habe sie alle gefangen und in diesen Koffer gesperrt, aber ich kann ihnen noch nichts nachweisen. Ist Ihnen aufgefallen, dass sie alle unterschiedliche Motive haben?“ – „Ja“, antwortete Christiane, „das ist mir in der Tat aufgefallen.“ Der kleine Mann sah Christiane lange und undurchschaubar an. „Das ist Ihnen also auch aufgefallen. Sie haben also dieses analytische Denken wie ich?“ Christiane nickte. Der kleine Mann dachte kurz nach und sagte dann leise: „Wenn das so ist, dann kann ich Sie ja auch in das Geheimnis einweihen. Sie dürfen aber unter keinen Umständen irgendwas verraten!“ Christiane versprach es. „Ich werde nämlich gejagt!“, flüsterte er. „Ach du lieber Himmel!“, schoss es Christiane durch den Kopf, „jetzt habe ich die Kalendermafia am Hals!“

Der kleine Mann zog seine Füße aus dem Eiswassereimer heraus. „Ich werde jetzt besser gehen“, sagte er. „Den Koffer mit den Beweismaterialien lasse ich am besten hier. Wenn die mich schnappen, dann können sie mir wenigstens nichts nachweisen.“

„Und dann ist er einfach wieder rausgegangen“, erzählte Christiane. „Ich habe ihm noch 50 Euro gegeben, damit er wenigstens heile zum Bahnhof kommt. Ich hoffe doch nicht, dass ich Schwierigkeiten mit denen bekomme? Wegen des Koffers, meine ich …“

CORINNA STEGEMANN