Zustände des Sozialen

Schriften zu Zeitschriften: „WestEnd“ heißt die neue Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Die erste Ausgabe bringt Wissenswertes über das nationale Trauma der USA

VON JAN-HENDRIK WULF

Oh Gott, warum wieder Bush, haben sich viele Europäer nach dem amerikanischen Wahlausgang gefragt. Eine der möglichen Erklärungen für das Wählervotum hätte man in der Zeitschrift WestEnd finden können. Das Blatt trägt den Beinamen „Neue Zeitschrift für Sozialforschung“. Damit möchte das Frankfurter Institut für Sozialforschung an die interdisziplinäre Tradition des vor rund 70 Jahren gegründeten Vorgängerheftes anknüpfen. In der ersten Ausgabe analysiert der israelische Wissenschaftsphilosoph José Brunner die „Politik der Traumatisierung“ und die Geschichte des verletzbaren Individuums – welches sich in Zeiten des Terrors und dessen medialer Omnipräsenz mit der verletzten Nation wieder eins fühlen kann.

Die psychische Verwundbarkeit moderner Individuen findet sich in der medizinischen und juristischen Literatur schon seit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters. Zeitgenössische Quellen verraten, wie die spektakulären Unglücke, Einstürze, Entgleisungen nicht nur körperlich, sondern auch auf das Nervensysten der Betroffenen wirkten und diese Ereignisse breite öffentliche Anteilnahme auslösten. Brunner erläutert, wie sich der wissenschaftliche Blick schon bald auf andere potenziell traumatisierte Personenkreise erweiterte: Über das Zuschauertrauma, das unbeteiligte Augenzeugen erfassen konnte, auf abwesende Anverwandte oder, wie im Fall des Holocaust, auf nachfolgende Generationen.

Nach dem 11. 9. sprach man zum ersten Mal von einem „nationalen Trauma“ der USA. Brunner zufolge wird mit dem Terror die politische Komponente der Traumatisierung als kultureller Metapher erkennbar: „Auf eine ganze Nation angewendet, hat der Begriff der Traumatisierung eine allumfassende Dimension angenommen, er betrifft nunmehr den geistig-seelischen Zustand eines gesamten politischen und sozialen Rahmens.“

Medizinische Untersuchungen in den USA und Israel erkennen in ihren Untersuchungen zu den Auswirkungen von Terroranschlägen „keinen Zusammenhang zwischen den Symptomen für PTSD (posttraumatische Belastungsstörung) und dem Ausmaß an Betroffenheit“. Terror trifft also nicht nur den Einzelnen am Tatort, sondern gleichermaßen die ganze Nation. Das ist in Demokratien eine Voraussetzung für politische Gegenmaßnahmen. So schlussfolgert Brunner: „Diskurse über Traumatisierung sind somit stets auch moralische Diskurse über soziale Ereignisse wie etwa Terroranschläge, die Täter, Gewalt und Opfer mit sich bringen und bei denen die Störung der sozialen und moralischen Ordnung zu einer seelischen Störung führten.“

Die heutigen „Kanäle der Traumatisierung“ sind die elektronischen Medien. Im Hinblick auf die US-Wähler hieße das: Was man vor dem Fernseher aus tiefster Seele fühlt, muss nicht unbedingt politische Folgen auslösen, sondern kann selbst schon eine politische Folge sein.

Ebenfalls in der Tradition der Ideologiekritik setzt sich der Sozialphilosoph Axel Honneth mit dem Begriff der Anerkennung auseinander. Als eigentlich „normativer Kern politischer Emanzipationsbemühungen“ sei der Begriff in unserer „affirmativen Kultur“ ein Mittel der symbolischen Politik geworden, um „Individuen oder soziale Gruppen durch Suggestion eines positiven Selbstbildes in die herrschende Gesellschaftsordnung einzubetten“. Honneth erläutert das am Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“, der Arbeitsorganisation mit der Idee der Selbstverwirklichung verknüpft. Von den Beschäftigten erfordert diese anerkennende Zuschreibung neue Kompetenzen der Selbstvermarktung und zwingt sie unter Umständen, „intrinsische Motive, Flexibilität und Begabungen dort vorzutäuschen, wo es in der eigenen Bildungsgeschichte keine Wurzeln dafür gibt“.

Mit fatalen Folgen: „Die kontinuierliche Wiederholung derselben Anerkennungsformeln erreicht auf repressionslose Weise das Ziel, eine Art von Selbstwertgefühl zu schaffen, das die motivationalen Ressourcen für Formen der freiwilligen Unterwerfung liefert.“ Wie wahr. Wem käme es heutzutage noch öffentlich über die Lippen, dass die eigene Arbeit nur notwendiges Übel sei?

Das liegt auch an den durchaus nicht repressionsfreien äußeren Bedingungen des Arbeitsmarktes. Schafft man sich nicht einfach nur etwas innere Erleichterung, wenn man das Wortgeklingel der Managersprache ganz gerne für sich übernimmt? Dran glauben ist ja noch etwas anderes.