: Gewalt erhöht Sensibilität für Gewalt
Schulen verzeichnen mehr Schüler, die mit Waffen zum Unterricht kommen. Denn seit den Todesschüssen in Erfurt ist vor allem die Aufmerksamkeit der Lehrer gestiegen. Landeskommission gegen Gewalt setzt auf Prävention
Ein Schulranzen eines Grundschülers enthält normalerweise ein paar Hefte, Stifte, vielleicht ein Buch und ein Pausenbrot. Normalerweise. Glaubt man aber dem „Jahresbericht zu Gewaltvorfällen an Berliner Schulen“, ist das in Berlin nicht immer so: Ausgerechnet die Grundschüler führen hier die Liste derer an, die mit Messern, Pistolen und anderen waffenartigen Gegenständen in die Schulen kommen.
Was unvorstellbar scheint, ist leider Trend: Im letzten Schuljahr meldeten die Schulen 55 Fälle, in denen Waffen in die Schulen mitgebracht wurden. Im Jahr davor waren es noch 27. Auch die Zahl der Gewaltvorfälle hat sich verdoppelt: „Gegenüber dem Schuljahr 2001/2002 haben wir im letzten Schuljahr eine Steigerung von 66 Prozent gehabt“, sagte Thomas Härtel, Vorsitzender der Landeskommission „Berlin gegen Gewalt“. 422 Zwischenfälle sind den Behörden gemeldet worden. Die Konflikte seien damit „gefährlicher ausgetragen worden als in allen Vorjahren“, heißt es in dem Bericht weiter.
So dramatisch die Zahlen klingen: Die Statistiken spiegeln nicht unbedingt den reellen Anstieg wider. „Nach dem Vorfall in der Erfurter Schule im Frühjahr 2002 reagieren viele Lehrer sensibler“, sagte Härtel. Die Bereitschaft, Vorfälle nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch nach außen zu melden, sei deshalb angestiegen. „Dazu kommt, dass wir inzwischen 15 Schulpsychologen haben, die Lehrer und Schüler beraten“, so Härtel weiter. Deshalb hätten die Lehrer eventuell auch mehr Mut.
Dass die offene Diskussion über Gewaltvorfälle erst mal zu einer deutlichen Steigerung in der Statistik führen kann, zeigt das Beispiel Neukölln: In dem Bezirk war das Gewaltthema mehrfach in Schulleitersitzungen thematisiert worden, worauf die Zahl der gemeldeten Vorfälle im vergangenen Schuljahr von 31 auf 118 stieg. Umgekehrt heißt es in dem Bericht: „Das auffallend geringe Niveau der gemeldeten Gewaltvorfälle etwa im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sollte deshalb kein Anlass verminderter Aufmerksamkeit sein.“
„Ich will hier nichts verharmlosen“, sagte Härtel, „gerade die Zahlen an den Grundschulen haben uns betroffen gemacht.“ Härtel und seine Kommissionskollegen haben sich deshalb für ein Waffenverbot auch an Grundschulen ausgesprochen. Trotzdem warnten sie vor überzogenen Reaktionen angesichts der Zahlen. Man reagiere schon lange auf die Vorfälle. Neben den Schulpsychologen habe man inzwischen 1.300 Konfliktlotsen und Mediatoren ausgebildet. Dazu kämen vielfältige Präventionsprojekte in und außerhalb der Schule.
Dass gleichzeitig die Zahl der rechtsextremistischen Vorfälle an Schulen zurückgegangen ist, führen die Autoren der Studie genau auf solche Präventionsprojekte zurück. „Hier haben wir einen Rückgang von 36 Vorfällen im Schuljahr 2001/2002 auf 27 Vorfälle im letzten Schuljahr“, so Härtel. Trotzdem, so die Warnung der Studie, dürfe man auch dieses Thema nicht aus den Augen lassen: „Mit dem Erlöschen der öffentlichen Aufmerksamkeit kann auch die Aufmerksamkeit in den Schulen nachlassen.“
SUSANNE AMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen