Kranke zu Kleingärtnern

Erstmals billigt ein Berliner Gericht einem chronisch Kranken, der Cannabis als Medizin angebaut hatte, eine Notlage zu. Verurteilt wurde er nur, weil er sich gleich 1.200 Tagesrationen erackerte

VON PLUTONIA PLARRE

Chronisch Kranke dürfen zur medizinischen Eigentherapie in ihrer Wohnung Cannabis anbauen. So lautet die Quintessenz eines Urteils im Prozess gegen einen 44-jährigen Frührentner, der gestern vor dem Amtsgericht zu Ende ging. Die Staatsanwaltschaft hatte eine dreimonatige Bewährungsstrafe gefordert. Der Angeklagte wurde aber nur zu einer Geldbuße unter Vorbehalt verurteilt. Die muss er nur zahlen, wenn er in den nächsten zwei Jahren erneut straffällig wird. Michael G. habe sich in einer „Notlage“ befunden, argumentierte das Gericht. Die einzige Alternative zum Cannabis, das synthetisch hergestellte Medikament Marinol habe er nicht vertragen. Nur dass G. gleich 250 Gramm besessen habe, sei nicht tolerabel. Bei einem täglichen Konsum von 200 Milligramm pro Tag hätte diese Menge für 1.200 Tage gereicht. „Das“, so der Richter, „ist nicht nötig“.

Der Fall hatte die Justiz seit Mai 2000 beschäftigt. Damals hatte die Polizei die Wohnung von Michael G. durchsucht und 59 Cannabispflanzen beschlagnahmt. G. leidet seit 21 Jahren an Morbus Crohn, einer chronisch entzündlichen, in Schüben verlaufenden Erkrankung des Verdauungstraktes. Nachdem das Verfahren mehrmals ausgesetzt worden war, war G. 2002 wegen unerlaubten Anbaus und Besitzes von Cannabis zu einer fünfmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Das Kammergericht hatte das Urteil Ende 2002 wieder aufgehoben und an das Amtsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hieß es damals, dass die Umstände, die den Angeklagten zum Drogenkonsum veranlasst hatten, nicht ausreichend geklärt worden seien.

Das holte gestern Amtsrichter Michael Zimmermann, der erstmals mit dem Fall befasst war, nach. Der Angeklagte schilderte, dass er jahrelang vergebens versucht habe, blutige Durchfälle mit Antibiotika und Cortison in den Griff zu bekommen. Die Folge: rapider Gewichtsverlust, Abszesse am After und starkes Erbrechen. 1996 sei er dann auf Cannabis als Medizin gestoßen. Mithilfe von Joints und Sitzbädern aus Cannabissud sei es ihm gelungen, die Beschwerden deutlich zu lindern. Mit dem Eigenanbau habe er sich den Nachschub sichern und die gleich bleibende Qualität gewährleisten wollen.

Eine Hausärztin, die ihn seit 1991 behandelt hatte, bestätigte gestern als Zeugin, dass sich dessen gesundheitlicher Zustand durch die Selbstmedikamentierung deutlich verbessert habe. Der vom Gericht bestellte Sachverständige, ein Pharmakologe der FU, verwies auf die muskelentspannende und appetitsteigernde Wirkung von Cannabis. Allerdings meinte der Gutachter, dass sich durch den Konsum von Marihuana an der grundlegenden Krankheitsursache von Morbus Crohn nichts ändere. Dem widersprach der eigens aus Köln angereiste und auf einer Bahre in den Gerichtssaal getragene, gesundheitlich angeschlagene Vorsitzende des Arbeitskreises „Cannabis als Medizin“, Franjo Grotenhermen. Der Arzt verwies auf neue internationale Forschungserkenntnisse, wonach Cannabis durchaus einen grundlegend günstigen Einfluss auf Morbus Crohn habe.

Im Mai war in Mannheim ein 40-jähriger Multiple-Sklerose-Kranker freigesprochen worden, bei dem 200 Gramm Haschisch gefunden wurden. Auch ihm war eine Notlage zugebilligt worden. Wie dort ist auch in Berlin zu erwarten, dass die Staatsanwaltschaft in Berufung geht.