Würdig und selbstbestimmt

Der Europarat hat seine Entscheidung über Sterbehilfe gerade vertagt. Dabei ist eine rechtliche Regelung dringend nötig, die den BürgerInnen mehr Freiräume gewährt

Menschenwürdige medizinische Versorgung und Pflege sind ein Menschenrecht

Wie lassen sich die Bedingungen für ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben in der letzten Lebensphase vor dem Tod rechtlich regeln? Die deutsche Debatte darüber ist unabweisbar und unausweichlich belastet. Schließlich haben hierzulande Ärzte im Nationalsozialismus die verbreiteten Züchter- und Herrschaftsfantasien zu Mordprogrammen an so genanntem „lebensunwerten Leben“ ausgearbeitet. Und diese Programme wurden auch umgesetzt, ohne dass es eine entsprechende strafrechtliche Aufarbeitung gegeben hätte. Es waren vor allem Kirchenmänner, die am deutlichsten diesen Mordaktionen widersprochen haben.

Allerdings folgt daraus nicht, dass es in Deutschland zu begründen wäre, Fragen von Tod und Gesundheit in einen Bereich des Unverfügbaren zu verweisen, in dem menschliche Entscheidungen und menschliche Rationalität als solche unzulässig wären. Vielmehr sollte uns die Geschichte lehren, dass menschliche Entscheidungen und menschliche Rationalität in diesem Bereich ganz besonders deutlich unter der Anforderung stehen, ihre Voraussetzungen zu reflektieren und überprüfbar zu artikulieren. Scharf zu unterscheiden ist dabei zwischen Entscheidungen, die über die Lage anderer Menschen zu treffen sind, und den autonomen Entscheidungen über die eigene Situation.

Wer die Debatte nicht ins Metaphysische abgleiten lassen will, muss darauf bedacht sein, immer klar auszusprechen, welche Ansprüche und Forderungen an das Handeln von Subjekten zur Verhandlung stehen. Man darf sich nicht in fruchtlose ontologische Erörterungen verwickeln lassen, für die es keine wissenschaftlichen Beantwortungswege gibt. Fragen, wann eigentlich das menschliche Leben beginnt oder wann es aufhört, sind nicht eindeutig zu beantworten. Ebenso wenig sind sie dazu geeignet, die praktischen moralischen und politischen Fragen zu beantworten, die sich in diesen Bereichen menschlichen Handelns stellen. Zu klären ist letztlich immer: In was für einer Art von Gesellschaft wünschen wir zu leben, um wechselseitig und umfassend unsere Menschenwürde zu respektieren?

Dies ist keineswegs eine Frage, die sich an eine beruflich spezialisierte Expertise delegieren lässt. Juristen und Philosophen können hier nur insoweit auf besonderes Gehör rechnen, als sie Techniken gelernt haben, das genauer zu artikulieren, was jeder Mensch in dieser Art von Fragen spontan denkt – vorausgesetzt, er hat Zeit und Gelegenheit, sich tiefer damit auseinander zu setzen. Auch Mediziner haben hier den „Laien“ allenfalls eine Art von Umgangserfahrung mit derartigen Konflikten voraus.

Es geht aber auch nicht an, den Problembereich zu ignorieren, der zwischen der eindeutigen Selbsttötung und der eindeutig strafbaren Tötung eines anderen liegt. Anders als im niederländischen Recht ist in Deutschland die Beihilfe zur Selbsttötung nicht mit Strafe bedroht.

Wenn ein Leiden unerträglich wird,braucht man Möglichkeiten für eine aktive Sterbehilfe

Das betrifft aber nur einen Teil der hier zu klärenden Fragen. Ein anderer Teil betrifft diejenigen PatientInnen, deren authentischer Wille nicht mehr von ihnen selbst artikuliert werden kann. Hier sind vor allem rechtlich verlässliche Formen zu finden, wie sie ihren authentischen Willen gleichsam präventiv mitteilen können (PatientInnenverfügungen). Man benötigt zudem Verfahren, wie auf überprüfbare Weise ein authentischer Wille aufgrund von Aussagen der Angehörigen und Nahestehenden rekonstruiert werden kann.

In diesen Verfahren wird ärztlicher Sachverstand eine durchaus wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Bedeutung haben: MedizinerInnen können abklären, wie die konkrete Lage und die zu erwartenden Perspektiven von PatientInnen aussehen. Sie können aber nicht wissen, welche existenzielle Haltung einE PatientIn dazu einnehmen würde. Wenn belastbar abgeklärt werden kann, dass er oder sie eine bestimmte Lage und Perspektive als völlig unerträglich erlebt hätte, dann müssen Formen gefunden werden, wie auch eine aktive Sterbehilfe möglich wird. Wenn allerdings daran ein begründeter Zweifel besteht, dann müsste ebenso klar sein, dass ein derartiger Eingriff verboten und strafbar ist.

Ein weiterer Bereich liegt noch tiefer im Kompetenzbereich medizinischer Expertise, ohne allerdings völlig in ihm aufzugehen: Bei PatientInnen, deren Tod als ohnehin nicht mehr abwendbar gilt, die zugleich große Schmerzen leiden, gilt es heute schon als zulässig, die verabreichten Schmerzmittel so stark zu dosieren, dass noch eine Schmerzminderung erreicht werden kann, auch wenn das absehbar die noch verbleibende Lebenserwartung verkürzt. Auch hier wäre die Grauzone auflösbar. Der verantwortlichen ÄrztIn wird eine belastbare Information über die zu unterstellende Haltung der PatientIn zur Verfügung gestellt. Am besten ist eine Patientenverfügung als Grundlage einer Entscheidung, hilfsweise Untersuchungen über die im bisherigen Leben der PatientIn praktizierten Einstellungen. Zudem müssten die ÄrztInnen ihr medizinisches Urteil und ihre Entscheidung mit einer PatientenvertreterIn erörtern. Auch wenn derartige Regelungen gefunden und angemessen in die juristische und medizinische Praxis umgesetzt werden, wird eine ungeregelte Grauzone bleiben.

Dies ist keineswegs eine Frage, die sich an professionelleExperten delegieren lässt

Medizinische Versorgung ist in jeder Gesellschaft immer auch ein Einsatz von Politik. Damit Regelungen wie die hier diskutierten nicht von Anfang an pervertiert werden – so wie auch sozialer Druck angeblich „nutzlose Menschen“ in den Freitod treiben kann –, ist es elementar, dass ein Grundkonsens gewahrt bleibt. Menschenwürdige medizinische Versorgung und Pflege sind ein Menschenrecht, das auch durch hohes Alter, chronische Erkrankungen oder Behinderungen um kein Gran gemindert werden darf. Hier bleibt auch die Solidarität mit der überwiegend christlich geprägten Hospizbewegung wichtig, ebenso wie die mit den PatientInnenbewegungen und den Bewegungen von Menschen mit Behinderungen.

Dennoch bleibt es eine unabweisbare Aufgabe, in diesem Problemfeld zu klareren rechtlichen Regelungen zu kommen. Nur so besteht die begründete Aussicht, in diesem Bereich des Umgangs mit menschlichen Individuen zu einer bewussten und kontrollierbarer humanen Praxis zu kommen. Das würde selbst dann gelten, wenn wir optimistisch davon ausgehen könnten, dass die gegenwärtig stattfindende Praxis aufgrund des hohen individuellen Ethos der medizinischen und der Pflegeberufe bereits vergleichbare Regeln als ethische Gebote beachtet. Allein schon der mit derartigen rechtlichen Regelungen verbundene Gewinn an Durchsichtigkeit und Verantwortbarkeit würde die menschliche Würde aller Betroffenen stärken. FRIEDER OTTO WOLFF