Eine Party für den Modder

Von ihrer Reise zum Lomonossow-Rücken in der Nähe des Nordpols hat die Arctic Coring Expedition (Acex) stangenweise Matsch nach Bremen gebracht, der es in sich hat: In ihm haben sich 56 Millionen Jahre Erd- und Klimageschichte abgesetzt

aus BremenBenno Schirrmeister

Matsch in Röhren. Gut, er kommt quasi vom Nordpol, und die Matschgewinnung war mit erheblichem Logistik-Aufwand verbunden, weil die Eis-Verhältnisse schlecht waren, Ende August,wie Expeditions-Leiterin Kate Moran von der University of Rhode Island erläutert. Außerdem ist er stellenweise 56 Millionen Jahre alt und damit der älteste Matsch weltweit.

Sensationeller Matsch also, aber nüchtern betrachtet, das heißt: ohne das Feuer geologischer oder gar paläoozeanografischer Begeisterung, ist das, worüber sich die Damen und Herren so freuen und womit sie die Weltpresse in Bremens Hafenreviere gelockt haben – französische Kollegen, schwedische, amerikanische, oldenburgische! –, ist der Auslöser dieses ganzen Trubels nüchtern besehen schlicht Modder. Oder besser: Lehm, weil es doch fester aussieht, als man sich Meeresboden vorgestellt hatte.

Die Damen und Herren sind natürlich WissenschaftlerInnen und nennen die mit Frischhaltefolie bedeckten Modder-Stangen „Sedimentbohrkerne“. Die lagern in weißen, halbrunden Plastik-Röhren, wahlweise mit roter und schwarzer Kapsel: Rot markiert sind die Archiv-Exemplare, die liegen in den oberen Etagen des riesigen Regals, wie Ursula Röhl vom Bremer Forschungszentrum Ozeanränder (RCOM) erläutert, die dann auch bestätigt, dass es sich wirklich um normale Haushaltsfolie handelt, im Bohrkernlager sei halt vieles im Grunde wie in einer Küche.

Bedingt gilt das auch für die Temperatur: Vier Grad Celsius, das ist Kühlschrank auf Maximum. Das muss so sein, sonst schimmelt der Matsch, und dann wäre er unbrauchbar: Die Röhren mit schwarzem Deckel werden nämlich des Öfteren nach nebenan getragen, ins Labor, wo die Forscher sie untersuchen. Fingergroße Stücke schneiden sie dafür aus den Lehmstangen, und an deren Stelle legen sie ebenso große Schaumstoffschnipsel, meistens beige, aber es gibt auch dunkelbraune, nicht ganz so günstig, weil das ja auch die Farbe des Sediments ist.

Bohrkernlager gibt es weltweit nur vier, drei davon in den USA. Umso mehr freut man sich in Bremen über die spektakulären Neuzugänge: Die Arctic Coring Expedition (Acex), im August von Tromsö ausgelaufen, hat im so genannten Lomonossow-Rücken, 250 Kilometer vom Pol entfernt, an drei Stellen den Bohrer angesetzt und ihn sich rund 450 Meter tief in den Meeresboden einfräsen lassen – so tief wie nie zuvor. Das Ergebnis ist jetzt in Bremen eingetroffen. Es besteht aus etwa 600 neuen Stangen pro Loch: Die Kerne werden nämlich auf eine Länge von jeweils anderthalb Metern zurechtgestutzt. Dann verdoppelt sich ihre Zahl per Längsschnitt, weil man ja je ein Archiv- und ein Arbeitsexemplar braucht.

Dass es einen Mega-Schritt in der Klima-Forschung bedeutet, kann man schon jetzt sagen: Je tiefer man in den Meeresboden vordringt, desto älter sind die erbohrten Ablagerungen. 1,5 Millionen Jahre Geschichte der Arktis hatte man bislang auf diese Weise lesbar gemacht. Jetzt sind auf einen Schlag 56 Millionen zur Entzifferung freigegeben – anhand der Fossilien und abgestorbenen Mikroorganismen, aus denen der Modder besteht. Von 1,5 auf 56 Millionen Jahre, das ist ein Sprung in etwa von der ABC-Fibel zu Tolstois Krieg und Frieden. Und mehr als erwartet: „At least 50 million years“, das war laut Moran die Zielvorgabe. Die sechs Millionen darüber hinaus sind mehr als ein Bonus: Sie erlaubten schon jetzt, die Zeitgrenze zwischen Paläozän und Eozän als „eine der wärmsten Perioden der Erdgeschichte“ zu beschreiben, sagt die Forscherin. Subtropisch warm muss es damals in der Arktis gewesen sein, durchschnittlich 20 Grad, von Eis keine Spur. Eine Zeit mit Treibhauseffekt: Für den, so wird vermutet, sorgte freiwerdendes Methangas. Und es gebe Hinweise in den neuen Bohrkernen, sagt Röhl, die diese Hypothese stützten.

An den Arbeitstischen im Labor nötigen derweil Fotografen die verfügbaren Forscher, sich interessiert über die Sediment-Stangen zu beugen und in die Kameras zu lächeln: Der sensationelle Modder allein taugt nicht als Bild. Auch nicht die an die Wand gepinnten Zettel, die aussehen wie EKG-Protokolle eines schwerkranken Patienten. Rasante Schwankungen, verteilt über Millionen Jahre. Es sind die Klimaprotokolle der Erdgeschichte.